In diesem Artikel geht es um das moralisch Gute. Mit dem moralisch Guten ist das menschliche Gute gemeint, das Gutsein des Menschen. Moralisch gut oder schlecht wird ein Mensch durch das, was er tut; durch seine moralischen Tätigkeiten, Handlungen bzw. Akte (die drei Ausdrücke werden hier synonym verwendet). Moralische Tätigkeiten sind Tätigkeiten, die der Mensch frei vollzieht. Freiheit ist die Voraussetzung für den Menschen, moralisch relevante Handlungen ausführen zu können. Im Artikel „Was ist das Gute“ sahen wir, dass alles das gut ist, was dem eigenen Wesen entspricht. Daraus folgt, dass die freien Handlungen des Menschen genau dann moralisch gut sind, wenn sie dem Wesen des Menschen entsprechen.
Das primäre Ziel dieses Artikels ist zu zeigen, dass gute und schlechte Taten des Menschen real sind, dass das Wort „Moral“ nicht inhaltsleer ist. Die Inhalte des Artikels umfassen zahlreiche Themen. Zu Beginn wird auf die Frage eingegangen, worin Freiheit besteht. Im Anschluss daran folgt das Thema „Wesen des Menschen“, und zwar insoweit als es für die eigentliche Thematik relevant ist. Zur Mitte hin wird dann direkt auf moralisch gute und schlechte Handlungen, sowie auf den moralischen Menschen, einschließlich seinem, Gewissen eingegangen. Im weiteren Verlauf wird die Moral in Beziehung gesetzt zu menschengemachten Gesetzen und zur Freiheit. Zum Ende des Artikels werden die Themen „Glück“ und „menschliche Vollendung“ behandelt.
Für die kommenden Inhalte ist es vorteilhaft, den Artikel „Was ist das Gute?“ gelesen zu haben. Vereinzelt wird auch auf Inhalte aus den Artikeln „Was ist der Mensch?“ und „Woher wissen wir, was wahr ist?“ verwiesen.
Viel Freude beim Lesen.
Freiheit des Menschen
Um moralische Handlungen zu verstehen sollte klar sein, was mit „freie Handlungen“ gemeint ist. Freie Handlungen sind diejenigen Handlungen, die vom Menschen willentlich vollzogen werden und nicht reflexhaft oder automatisch. Freiheit meint hier weder, frei von Manipulation oder Beeinflussung, noch frei von Abhängigkeiten, Bindungen oder Süchten zu sein. Mit Freiheit ist die grundlegende Möglichkeit des Menschen gemeint, selbstbestimmt tätig sein zu können. Die Freiheit des Menschen ist dasjenige, aufgrund dessen der Mensch für seine Handlungen Verantwortung trägt. Wegen der menschlichen Freiheit werden die Handlungen des Menschen zurecht gelobt und kritisiert.
Gehen wir nun etwas tiefer auf das ein, worin die grundlegende Möglichkeit des Menschen begründet ist, selbstbestimmt tätig sein zu können. Wenn der Mensch selbstbestimmt tätig sein können soll, muss es im Menschen eine Kraft geben, die selbstbestimmt ist. Würde der Mensch keine Kraft in sich haben, welche die Möglichkeit zur Selbstbestimmung hat, würden sich die Kräfte des Menschen nur gegenseitig bestimmen können. Da der Mensch jedoch nicht seit Ewigkeiten lebt oder eine unbegrenzte Anzahl an Kräften hat, muss eine Kette an Bewegungen, in der sich die Kräfte des Menschen gegenseitig bestimmen, durch etwas außerhalb des Menschen angefangen haben. Dieser äußere Anfang der Kette gegenseitiger Beeinflussungen der Kräfte des Menschen wäre das, aufgrund dessen der Mensch handelt, wie er handelt. Er würde also mit Notwendigkeit handeln. Wenn es keine Kraft im Menschen gäbe, die selbstbestimmt ist, wäre der Mensch also nicht frei.
Jetzt schauen wir bitte einmal, wo sich unser rechter Arm befindet. Jeder wir sicherlich einsehen, dass wir die Möglichkeit haben, ihn in eine andere Position zu bringen. Wenn wir nun diesen Artikel bis hierhin gelesen haben, können wir uns, genau wie zu jedem anderen Zeitpunkt des Lesens, dazu entscheiden, abzubrechen, um z. B. etwas anderes zu lesen. Dann stellen wir uns noch vor, dass wir eine Obstschale besitzen, in der sich Äpfel, Bananen, Kakis und Mangos befinden. Angenommen wir stünden davor mit der Absicht Obst zu essen, hätten wir die freie Wahl, für welche der Früchte wir uns entscheiden.
Welche Kraft in uns ist es, die uns dazu befähigt, die Entscheidungen aus den Beispielen auszuführen? Es ist der Wille. Wegen unseres Willens können wir den Arm in eine beliebige Position bringen, etwas anderes lesen oder eine beliebige Frucht essen. Doch was befähigt den Willen dazu, eine der beliebigen Handlungsmöglichkeiten auszuführen? Muss der Wille es ausführen, die Position des rechten Armes zu ändern, etwas anderes zu lesen oder eine der Früchte zu essen? Nein. Also wird der Wille nicht von etwas Fremdem dazu bestimmt, entweder tätig zu sein oder auch nicht tätig zu sein. Der Wille wird aber von etwas dazu bestimmt, entweder eine Handlungsmöglichkeit zu wählen, oder auch keine Handlung auszuführen. Doch was ist dasjenige, was den Willen dazu bestimmt? Das ist auch der Wille. Der Wille bestimmt sich selbst dazu, tätig zu sein, oder er bestimmt sich nicht dazu, tätig zu sein. Der Wille kann sich dazu bestimmen, eine bestimmte Tätigkeit auszuführen. Auf die Entscheidung des Willens aufbauend, tätig zu sein, wählt der Wille zwischen den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten. Immer wenn der Wille eine Handlungsmöglichkeit wählt, hat er sich vorher dazu bestimmt, überhaupt zu handeln.
Der Wille kann entscheiden, die Position des rechten Armes zu ändern. Wenn sich der Wille dazu entschlossen hat, die Position des rechten Armes zu ändern, kann der Wille wählen, in welche Position der rechte Arm gebracht werden soll. Der Wille kann sich dazu bewegen, diesen Artikel weiterzulesen. Wenn sich der Wille dazu bewegt, nicht weiterzulesen, kann er wählen, was er anstelle dessen macht. Der Wille kann sich selbst dazu bestimmen, eine der Früchte zu essen. Wenn sich der Wille dazu selbst bestimmt, eine Frucht zu wollen, kann er zwischen den Früchten wählen. Bei der Wahl wird er natürlich von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Eine Frucht kann am gesündesten sein, eine andere schmeckt am besten und mit einer dritten assoziiert er positive Kindheitserlebnisse. Auch wenn der Wille von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, ist die Beeinflussung in diesem Fall und in den allermeisten anderen Fällen jedoch nicht so groß, dass der Wille nicht wählen könnte. Der Wille kann und tut sich nicht nur trotz der Einflüsse entscheiden, sondern er entscheidet sich vielmehr für einen der Einflüsse; anders ausgedrückt, für eines der Güter. In „Was ist das Gute?“ sahen wir bereits, dass die Befähigung dazu, etwas wollen zu können, Güter bzw. Handlungsgegenstände sind. Dasjenige, was den Willen also dazu motiviert, sich selbst zu bestimmen, sind die Güter, die vom Verstand erkannt und dem Willen vorgestellt werden.
Es sieht also wie folgt aus: Es existieren äußere und innere Güter. Der Verstand erkennt Güter. Der Verstand stellt die erkannten Güter dem Willen vor. Der Wille bestimmt sich selbst entweder dazu, allgemein ein beliebiges Gut zu wollen bzw. zu wählen, oder der Wille bestimmt sich nicht selbst dazu, allgemein ein beliebiges Gut zu wollen bzw. zu wählen. Wenn sich der Wille selbst dazu bestimmt hat, allgemein ein beliebiges Gut zu wählen, wählt er ein bestimmtes Gut; der Wille entscheidet sich für ein bestimmtes der möglichen Güter. Daraufhin erstrebt der Wille das Gut. Der Mensch ist dann so lange tätig, bis er das Gut besitzt, oder sich durch den Willen dazu entscheidet, das erstrebte Gut nicht mehr zu wollen bzw. ein anderes Gut zu wollen.
Der Mensch hat also eine Kraft, die sich selbst bestimmen kann: den Willen. Die Freiheit des Willens besteht in erster Linie darin, zu entscheiden, ob überhaupt ein Gut gewählt werden soll. In zweiter Linie besteht die Freiheit des Willens darin, ein konkretes der möglichen Güter zu wählen. Diese beiden Akte des Willens sind in der Praxis ineinander übergehend und werden nicht als getrennt voneinander erlebt. Überdies ist es immer der Mensch, der durch den Willen die Akte vollzieht. Wenn hier also steht, dass der Wille etwas macht, ist damit immer gemeint, dass der Mensch es mit seinem Willen macht. Handlungsfreiheit besteht in einer Kraft, die sich selbst bestimmen kann. Der Wille ist diese Kraft. Da der Mensch den Willen hat, ist der Mensch in seinen Handlungen frei.
Wesen des Menschen
Nachdem wir auf die Freiheit des Menschen Bezug nahmen, als eine notwendige Voraussetzung für moralisches Tätigsein, aber auch als Bestandteil von moralischem Tätigsein, gehen wir nun auf eine weitere Voraussetzung ein, moralische Handlungen in ihrem Wesen zu bestimmen. Im Artikel „Was ist das Gute?“ sahen wir bereits, dass, wenn wir wissen wollen, worin das Gute eines beliebigen Dinges oder Lebewesens besteht, wir erst einmal wissen müssen, was das Wesen des entsprechenden Dinges oder Lebewesens ist. Da es hier um das moralisch Gute geht, gehen wir nun kurz insoweit auf das Wesen des Menschen ein, als es relevant ist, um moralische Handlungen zu verstehen.
Der Mensch ist mit verschiedenen Kräften ausgestattet. Auf eine von ihnen haben wir oben bereits angefangen einzugehen: den Willen. Er ist diejenige Kraft, welche die menschlichen Handlungen ausführt und deren Tätigkeitsziel die Güter sind. Damit verbunden ist der große Einfluss des Willens auf eine Reihe von anderen menschlichen Kräften, wie z. B. dem Verstand oder dem Bewegungsvermögen. Der Wille vermag zu entscheiden, worauf sich der Verstand richtet und inwiefern sich der menschliche Körper zu bewegen hat.
Ferner hat der Mensch als weitere Kraft den Verstand. Mit dem Verstand erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Das Tätigkeitsziel des Verstandes ist die Wahrheit bzw. Wirklichkeit. Mehr hierzu im Artikel „Woher wissen wir, was wahr ist?“. Der Verstand ist auch diejenige Kraft, welche die Güter erkennt und dem Willen vorschlägt. Wenn der Verstand die Güter erkannt hat, hat der Wille die Möglichkeit, sie zu erstreben. Der Verstand kann den Willen auch zum Handeln motivieren bzw. beeinflussen, indem er Gründe dafür anführt, warum es mehr oder weniger sinnvoll ist, dieses oder jenes Gut zu erstreben. Beispiele: Der Verstand kann dem Willen vorschlagen, früh aufzustehen, um noch einige anstehende Aufgaben erledigen zu können, die sonst unerledigt blieben. Der Verstand kann dem Willen auch vorschlagen, gesund zu essen und Fitness zu betreiben, da diese Tätigkeiten körperliche Gesundheit, körperliche Fitness und Schlankheit zu einem höheren Grad nach sich ziehen, als würde man diese Tätigkeiten nicht vollziehen, und zudem Gesundheit, Fitness und Schlankheit weitere positive Folgen nach sich ziehen.
Neben dem Verstand gibt es im Menschen noch eine weitere Kraft, die den Willen in seinen Entscheidungen beeinflussen kann. Wir nennen diese Kraft hier „sinnliches Strebevermögen“. Mit dem sinnlichen Strebevermögen ist all das gemeint, was umgangssprachlich mit den Ausdrücken „Emotionen“, „Leidenschaften“ und „Affekte“ bezeichnet wird. Das Ziel des sinnlichen Strebevermögens ist die Befriedigung der jeweiligen Gefühle. Das sinnliche Strebevermögen kann in seiner Beeinflussung auf den Willen im Einklang stehen mit der Beeinflussung des Verstandes auf den Willen. Das sinnliche Strebevermögen kann in seiner Beeinflussung auf den Willen allerdings auch im Widerspruch stehen zum Einfluss des Verstandes auf den Willen. Beispiele: Während der Verstand dem Willen vorschlägt, aufzustehen, um dringliche Aufgaben zu erledigen, kann das sinnliche Strebevermögen den Willen dazu beeinflussen, weiterzuschlafen. Während der Verstand den Willen dazu beeinflusst, gesund zu essen und Fitness zu betreiben, kann das sinnliche Strebevermögen fordern, leckerere Speisen zu essen und bequemere Tätigkeiten zu wählen.
Neben der Auflistung verschiedener Kräfte im Menschen ist es unabdingbar, auf einen weiteren wichtigen Aspekt im Menschen hinzuweisen, der unter anderem durch die notwendige Folge verschiedener menschlicher Kräfte begründet wird: die Hinordnung zur Gemeinschaft, das Angewiesensein von Menschen voneinander, das Soziale der menschlichen Natur.
In kaum einer menschlichen Epoche sticht der soziale Aspekt des menschlichen Wesens so deutlich hervor, wie in der gegenwärtigen. Durch die sozialen Medien kommen menschliche Bedürfnisse, wie z. B. das Bedürfnis, von anderen Menschen gesehen, anerkannt und geliebt zu werden, Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Verbundenheit, Wettbewerb und Selbstdarstellung besonders stark zur Geltung. Das Hingeordnetsein des menschlichen Wesens auf Gemeinschaft macht sich aber noch auf viele weitere Weisen bemerkbar: Geschichtlicher Fortschritt ist nur durch das Zusammenarbeiten und die Wissensweitergabe von Menschen möglich. Die Vermehrung von Menschen (Fortpflanzung) ist nur durch das Zusammenkommen von Menschen möglich. Das Überleben von Menschen ist nur durch die Zusammenarbeit von Menschen möglich. Selbst bei maximal autark lebenden Menschen haben entsprechende Personen bei ihrem Wissensstand zumindest zu Beginn ihrer Autarkie Hilfe haben erhalten müssen. Faktisch ist es so, dass bei nahezu jedem gegenwärtig lebenden Menschen Nahrung, Kleidung, Wohnung, Sicherheit und vor allem Wissen ohne Hilfe durch andere Menschen nicht möglich wären. Wir sehen also, dass das Soziale notwendig zum Menschen gehört, dass Menschen aufeinander angewiesen sind, was in der menschlichen Natur begründet ist, dass der Mensch ein soziales Lebewesen ist.
Das moralisch Gute
Im Artikel „Was ist das Gute?“ sahen wir bereits, was das Gute ist. Das Gute ist das, was ist. Je mehr etwas ist (existiert), umso besser ist es. Anders ausgedrückt, besteht das Gute in der Verwirklichung von etwas. In unserem Fall geht es um die Verwirklichung des Menschen. Das moralisch Gute ist die Verwirklichung des Menschen bzw. der menschlichen Natur. Zugleich ist moralisch gutes Verhalten der Grund dafür, dass der Mensch für sein Verhalten zurecht gelobt wird, während moralisch schlechtes Verhalten der Grund dafür ist, dass Menschen für ihr Verhalten zurecht getadelt werden. Daraus folgt, dass moralisches Gutsein nicht einfach nur ein Synonym ist für die Verwirklichung des Menschen, sondern, dass das moralisch Gute eine bestimmte Qualität menschlicher Verwirklichung ist. Diese noch nicht näher bestimmte Qualität an menschlicher Verwirklichung ist auch der Maßstab für moralisches Gutsein: Je höher der Grad der Qualität von Verwirklichung, umso moralisch besser.
Der Mensch ist ein tätig seiendes Wesen. Die Verwirklichung des Menschen geschieht – wegen seines tätig seienden Wesens, seiner tätig seienden Natur – durch Tätigsein. Tätig sein kann der Mensch auf zwei verschiedene Weisen: Zum einen selbstbestimmt und zum anderen nicht selbstbestimmt. Selbstbestimmt handelt der Mensch durch den Willen. Dies umfasst das Denken, Reden und Tun des Menschen. Nicht selbstbestimmt ist der Mensch dann tätig, wenn er vom Willen nicht befohlene Akte vollzieht. Hierzu gehören z. B. Akte unter starkem Drogen-, Gewalt- und Hypnoseeinfluss oder reflexhafte Körperbewegungen. Die willentlichen Akte werden durch den geistigen Teil der menschlichen Natur vollzogen, die nicht willentlichen Akte nicht. Der geistige Teil der menschlichen Natur ist der am meisten vollkommene Teil der menschlichen Natur und der dem menschlichen Wesen innerlichste oder wesentlichste Teil (mehr hierzu siehe den Artikel „Was ist der Mensch?“).
Die noch nicht näher bestimmte Qualität menschlicher Verwirklichung, in der das moralisch Gute besteht, ist diejenige Verwirklichung, die durch den am vollkommensten (den geistigen) Teil der menschlichen Natur vollzogen wird. Im geistigen Teil ist es der Wille, der Handlungen ausführt. Der Wille ist somit diejenige Kraft, durch die der Mensch moralisch gut oder schlecht handelt. Der Wille ist das Vermögen, wegen dem das Verhalten zurecht gelobt oder getadelt wird. Der Grad an menschlicher Verwirklichung durch den Willen ist der Maßstab für moralisches Gutsein.
Der Mensch vereint in seinem Wesen zwei verschiedene Dimensionen oder Wirklichkeitsebenen: die sinnliche und die geistige. Das moralisch Gute (die Moral) kann unterschieden werden in dasjenige, welches die sinnliche Dimension des Menschen einschließt, und in dasjenige, welches sich nur auf die geistige Dimension des Menschen bezieht. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die moralischen Taten des Menschen in der Regel durchdrungen sind von beiden Arten von Moral. Wenn also eine Person eine moralisch schlechte Tat vollzieht, umfasst die moralisch schlechte Tat in der Regel beide Arten von Moral. Trotzdem werden hier beide Arten von Moral – um des besseren Verständnisses wegen – getrennt voneinander dargelegt. Wir beginnen mit der Art von Moral, welche sich nur auf die geistige Dimension des Menschen bezieht.
Die geistige Dimension des Menschen besteht im Besitz des Verstandes und des Willens. Wir sahen bereits, dass der Verstand auf die Wahrheit bzw. Wirklichkeit gerichtet ist. Das moralisch Gute der rein geistigen Art besteht darin, dass sich der Wille dem Ergebnis des Verstandes – insoweit es sich auf für Tätigkeiten Bedeutsames bezieht – unterordnet; dass sich der Wille der Wirklichkeit – insoweit sie handlungsrelevant ist – unterordnet; dass man im Einklang mit der Wirklichkeit tätig ist; dass man in seinem Handeln wahrhaftig ist. Dies schließt ein, dass man der Wirklichkeit gegenüber offen eingestellt ist und im Erkennen der Wirklichkeit wachsen will. Was dies alles heißt, wird im weiteren Verlauf klarer werden. Vorab sei auf die Beziehung zwischen „Wirklichkeit“ und „Verwirklichung“ eingegangen: „Verwirklicht“ und „Gut“ sind synonyme Begriffe. Gut wiederum ist das, was wirklich ist. Je mehr etwas gut ist, umso wirklicher ist es, und je wirklicher etwas ist, umso besser ist es. Die Wirklichkeit ist das, was verwirklicht ist. Die Verwirklichung ist eine Steigerung von Wirklichkeit (mehr hierzu siehe den Artikel „Was ist das Gute?“).
Wir fassen das moralisch Gute der rein geistigen Ebene des Menschen mit dem Ausdruck „Demut“ zusammen. In der Demut kann sich der Träger bzw. Besitzer der Demut auf sich selbst beziehen und auf ein Gegenüber beziehen. Wir beginnen damit, auf die Art von Demut einzugehen, in der sich das Subjekt auf sich selbst bezieht. Wir nennen diese Art von Demut einfachheitshalber hier „erste Art von Demut“.
Erste Art von Demut
In der ersten Art von Demut erkennt die demütige Person sich selbst mit ihren Stärken und Schwächen, mit ihren Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, und anerkennt diese. Der Grad des Erkennens variiert natürlich von Person zu Person. Wichtig ist jedoch, dass sich um eine wachsende Selbsterkenntnis bemüht wird, da ansonsten eine wichtige Grundlage für moralisches Wachstum fehlt (je mehr der handlungsrelevanten Wirklichkeit im Denken, Reden und Tun entsprochen wird, umso objektiv besser; je mehr der handlungsrelevanten Wirklichkeit, insoweit sie zu erkennen ist, im Denken, Reden und Tun entsprochen wird, umso größer ist objektiv das subjektive Gutsein; weiter unten mehr hierzu). Eine vollständige Selbsterkenntnis gibt es nicht.
Die Selbsterkenntnis schließt das Erkennen der eigenen Werthaftigkeit ein, mit der in der ersten Art von Demut angemessen umgegangen wird, d. h., dass im eigenen Denken, Reden und Tun nicht ausgedrückt wird, mehr oder weniger wertvoll zu sein, als man ist, bzw. als man erkennen kann, dass man ist. Die eigene Größe, Ehre und Bedeutsamkeit werden ebenfalls genau so genommen, wie sie eigentlich sind, bzw. wie man erkennen kann, dass sie eigentlich sind. Es wird sich auch nichts zugeschrieben, was nicht von einem selbst kommt. Wenn mit anlagebedingten bzw. angeborenen Stärken oder Schwächen so umgegangen würde, dass man für ihr Zustandekommen selbst verantwortlich ist, wäre dies ein Verstoß gegen die erste Art von Demut.
Weiterhin schließt die erste Art von Demut ein, dass man sich selbst so annimmt, wie man eigentlich ist. Trotzdem darf und soll natürlich an den eigenen Schwächen gearbeitet werden. Nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die aktuelle Lebenssituation bezieht sich die Demut. Die erste Art der Demut beinhaltet, dass, unabhängig davon, ob die eigene Lebenssituation (insoweit sie unveränderlich ist) einschließlich der eigenen Vergangenheit von einem selbst als gut oder schlecht bewertet werden, mit diesen doch nicht insofern im eigenen Denken, Reden und Tun umgegangen wird, als seien sie gegenwärtig nicht unveränderlich. Natürlich darf und soll auch hier die aktuelle Lebenssituation verbessert werden, doch wenn das, was im eigenen Leben gegenwärtig ist, als nicht existent abgelehnt wird, ist auch dies ein Verstoß gegen die erste Art von Demut.
Die erste Art von Demut beinhaltet außerdem, dass Güter nicht in einem unverhältnismäßig/unangemessen hohen Maße willentlich begehrt werden. Das Kriterium dafür, ein Gut vom Grad her zu sehr zu wollen, besteht in der ungeordnet emotionalen Reaktion beim Nichterhalt des Gutes. Eng verwandt hiermit ist ein weiterer Verstoß gegen die erste Art von Demut, bei der begrenzte Güter verabsolutiert werden, bei der also gewöhnliche Güter zu einer Art Götzen erhoben werden, bei der man sich an beschränkten Gütern ergötzt.
Ebenso besteht ein weiterer wichtiger Punkt der ersten Art von Demut darin, die menschlichen Kräfte/Vermögen und die damit verbundenen Akt-Arten/Tätigkeitsmöglichkeiten nicht so zu gebrauchen, dass sie zu ihrem jeweiligen Sein/zu ihrem jeweiligen Ziel im Widerspruch stehen. Ein Beispiel hierfür ist das Selbsterhaltungsvermögen, welches verbunden ist mit der Tätigkeit des Konsums von Essen und Trinken, dessen natürliches biologisches Ziel in erster Linie die Nahrungsaufnahme und Verarbeitung ist. Würde nun aus Freiheit dieses Ziel verhindert werden, z. B. dadurch, dass nach dem Konsum des Essens und Trinkens die Nahrung gezielt erbrochen wird, um aus Spaß am Essen und Trinken weiteres zu sich zu nehmen, wäre dies ein Verstoß gegen die erste Art von Demut.
Des Weiteren schließt die erste Art der Demut einen verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Person ein. Tätigkeiten des Leichtsinns, bei denen ein nicht unerheblich hohes Risiko besteht, ernsthafte Schäden davonzutragen, stehen zu ihr im Widerspruch. Seinen Körper in angemessener Weise zu verwirklichen bzw. zumindest nichts zu tun, was zur Verwirklichung des Körpers im Widerspruch steht, ist auch Teil der Demut. Die Demut ist die Unterordnung der eigenen Person gegenüber der Wirklichkeit. Zur Wirklichkeit gehört der eigene Körper mit dem, was zu seiner Weiterentwicklung und Schädigung führt. Das Gut des Körpers ist seine Weiterentwicklung und das Übel des Körpers ist seine Schädigung. Sich selbst (als Ganzes inkl. des Körpers) dieser Wirklichkeit im eigenen Handeln unterzuordnen, ist somit auch Teil der Demut (zur Erinnerung: die Wirklichkeit ist das, was verwirklicht ist; die Verwirklichung ist eine Steigerung von Wirklichkeit). Sich im Handeln der Wirklichkeit unterzuordnen, heißt nichts anderes, als das Gute zu tun und das Schlechte zu meiden; als sich selbst zu verwirklichen; als sinnvoll zu handeln; als der Bestimmung der menschlichen Natur zu folgen. Freie, unnötige Akte, die wahrscheinlich zu Schäden des Körpers führen, stehen also im Widerspruch zur Demut. Genauso steht die andauernde Tätigkeitslosigkeit zur Demut im Widerspruch. Demut führt zur Verwirklichung. Verwirklichung wird durch Tätigsein vollzogen (siehe „Was ist das Gute?“). Andauernde Tätigkeitslosigkeit verhindert also die eigene Verwirklichung und hat somit das Gegenteil zur Folge, als wozu die Demut führt.
Zweite Art von Demut
Kommen wir nun zur zweiten Art von Demut. Bei ihr bezieht sich das Subjekt bzw. der Träger oder Besitzer der Demut auf ein Gegenüber. Weiter oben sahen wir bereits, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, dass der Mensch auf Gemeinschaft hingeordnet ist. Wenn die Menschen also bis zu einem gewissen Grad voneinander abhängig sind, um sich selbst zu verwirklichen bzw. um glücklich zu werden, folgen daraus ganz natürlich bestimmte Verpflichtungen, wenn gut gehandelt werden soll. Die oberste aus der menschlichen Natur folgende Pflicht anderen Menschen gegenüber besteht darin, sie in ihrer Verwirklichung nicht zu behindern oder zu schädigen. Hierzu zählt, dass man sich selbst nicht über andere stellt, dass der eigene Wert nicht über den Wert anderer gestellt wird. Wir erkennen nicht einmal vollständig uns selbst. Den Wert des anderen geringer als den eigenen einzustufen, liegt also – selbst wenn angenommen würde, dass der Wert bei Menschen verschieden hoch sein kann – außerhalb dessen, wozu wir befähigt sind. Natürlich könnte dann festgestellt werden, dass man in bestimmten Bereichen über-/ unterlegen ist, doch den vollständigen Wert einer Person zu bemessen ist etwas anderes und uns nicht möglich.
Zur zweiten Art von Demut zählt außerdem, dass sich selbst nichts angemaßt wird, das einem nicht zusteht. Hierzu zählen z. B. Größe, Ehre, Bedeutung, Lob, Ruhm, Rechte und äußere Güter (das Eigentum eines anderen). Ein Verstoß gegen einen der Punkte hätte die Behinderung anderer Menschen zur Folge. Somit würde sich auch hier nicht der Wirklichkeit – in diesem Fall der sozialen Natur des Menschen mit seiner obersten Verpflichtung – untergeordnet werden. Zu lügen zählt auch dazu.
Ein weiterer Punkt, bei dem gegen die zweite Art von Demut verstoßen wird, ist die bewusste Ablehnung der eigenen sozialen Natur; die Ablehnung der in der eigenen Natur begründeten Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen Personen. Eng damit verbunden sind die Ablehnung des sich Unterordnens unter Personen, die ihrer Stellung nach über einem stehen bzw. legitime Befugnisse über einen haben; die grundsätzliche Ablehnung davor, Hilfe zu erhalten, sowie eine Abneigung davor, bei anderen Menschen in der Schuld zu stehen; die Ablehnung der Anerkennung und des Zugeständnisses eigener Schwächen sowie des anderen Menschen unterlegen-seins in Fällen, bei denen es zutrifft. Ein weiterer Verstoß gegen die oberste Verpflichtung der zweiten Art von Demut ist die unnötige und ungefragte Einmischung in Situationen, die andere Menschen betreffen und einen selbst nichts angehen.
Über die oberste Verpflichtung, andere Menschen in ihrer Entfaltung nicht zu behindern oder zu schädigen, gibt es noch eine weitere moralische Verpflichtung, die hier nur angedeutet wird. Diese ist die Unterstützung in der Entfaltung anderer Menschen, und zwar gradabhängig von der Beziehung zu den anderen Menschen, der eigenen Fähigkeit, Hilfe geben zu können, der Dringlichkeit und Artbedingtheit der Hilfsbedürftigkeit anderer Menschen und den äußeren Umständen.
Bevor die zweite Art von Demut abgeschlossen werden kann, muss noch ein weiterer wichtiger Punkt erwähnt werden. Die zweite Art von Demut bestand in der wirklichkeitsgemäßen Beziehung des Subjekts zu einem Gegenüber. Als Gegenüber haben wir bisher lediglich menschliche Personen genommen. Es bleibt allerdings die Frage nach der Existenz eines personalen Absoluten als Gegenüber, die Frage nach der Existenz Gottes und den sich daraus ergebenden moralischen Folgen offen. Würde es Gott geben und würden wir dies wissen können, würden sich aus diesen Tatsachen heraus Ableitungen für unser richtiges Handeln ergeben, die Bestandteil der zweiten Art von Demut wären. Mit Gott, als Ursprung und Ziel menschlichen Seins, eine gelebte Beziehung zu führen, die auf der eigenen Unterordnung unter Gott aufbauend ausschließt, sich selbst zu Gott zu machen, Begrenztes zu Gott zu erheben oder Gott zu Begrenztem herabzusenken, wäre als Folge selbstverständlich. Da jedoch die Frage nach der Existenz Gottes in diesem Artikel nicht behandelt wird, wird auch auf die Frage nach dem moralisch Guten in Zusammenhang mit Gott oder nach dem wirklichkeitsgemäßen Handeln in Zusammenhang mit Gott nicht näher eingegangen. Diesen Fragen wird in anderen Artikeln der ihr gebührende Raum gegeben.
Wir fassen abschließend ganz allgemein das moralisch Gute auf der geistigen Ebene des Menschen – die Demut – zusammen. Zunächst einmal sollte durch die Ausführungen jedem klar sein, dass Demut nichts mit Schwäche oder Weichlichkeit zu tun hat. Im Gegenteil: Die Demut ist die Bereitschaft, sich der Wirklichkeit unterzuordnen. Im Denken, Reden und Tun wird sich, auf der Bereitschaft aufbauend, in der Demut der Wirklichkeit untergeordnet. Darüber hinaus versucht der demütige Mensch stets, im Erkennen der Wirklichkeit, insbesondere insoweit sie fürs Tätigsein relevant ist, zu wachsen.
Das moralisch Gute und der sinnliche Mensch
Weiter oben haben wir die Unterscheidung des moralisch Guten vorgenommen in die Art, welche sich ausschließlich auf die geistige Dimension des Menschen bezieht. Darauf sind wir bereits ausführlich eingegangen. Dann gab es noch die Art von moralisch Gutem, welches die sinnliche Dimension des Menschen einschließt. Hierauf beabsichtigen wir im Folgenden einzugehen. Im Abschnitt „Wesen des Menschen“ wurde dargelegt, dass zwei menschliche Kräfte den Willen in seinen Entscheidungen beeinflussen oder motivieren können. Das war zum einen der Verstand und zum anderen dasjenige, was als „sinnliches Strebevermögen“ bezeichnet wurde. Würden beide Einflüsse auf den Willen im Gegensatz zueinanderstehen, besteht das moralisch Gute im vernunftgeleiteten Handeln. Die Gründe dafür sind vielfältig, hier eine kurze Auflistung von manchen: Zum einen ist im Artikel „Was ist der Mensch?“ gezeigt worden, dass der Verstand vollkommener ist als das sinnliche Strebevermögen. Dann ist es auch der Verstand, der die Wirklichkeit mit ihren Gütern erkennt, während das sinnliche Strebevermögen unmittelbar lediglich auf die Gefühlsbefriedigung aus ist (mehr hierzu siehe „Was ist das Gute?“). Darüber hinaus sind die Gefühle wechselhaft und unbeständig. Etwas, das heute von Gefühlen begehrt wird, kann morgen verabscheut werden und was dem einen gefühlsmäßig zusagt, kann dem anderen nicht zusagen. Das Gute ist jedoch objektiv, siehe den Artikel „Was ist das Gute?“ (Gefühle zu haben, ist natürlich auch ein objektives Gut).
Das moralisch Gute, welches die sinnliche Ebene des Menschen einbezieht, besteht also im vernünftigen Handeln. Es gibt hier verschiedene Arten des Vernünftig- oder Unvernünftigseins. In Abhängigkeit davon, wohin das sinnliche Strebevermögen einen wider die Vernunft bewegen möchte, fällt die Art des Vernünftigseins bei vernunftentsprechendem Handeln, und die Art des Unvernünftigseins bei vernunftwidrigem Handeln aus. Hier ein paar Beispiele: Wenn das sinnliche Strebevermögen uns dazu drängt, mehr Nahrung zu konsumieren, als wie die Vernunft sagt, dass es unter gegebenen Umständen gesund wäre, ist dies der Bereich der Maßhaltung und Maßlosigkeit. Der emotionale Erregungsgrad in als negativ bewerteten Situationen betrifft die Art „Sanftmut“ bzw. „Zorn“. Wenn die Gefühle dazu drängen, ein beliebiges Gut schneller zu erhalten/erreichen als möglich, betrifft dies den Bereich der Geduld und Ungeduld. Der Einfluss des sinnlichen Strebevermögens, die Gedanken auf andere Dinge zu richten, als womit sich gegenwärtig befasst wird, betrifft die Art „Achtsamkeit“ bzw. „Unachtsamkeit“. Wenn die Gefühle dazu geneigt machen, über einen längeren Zeitraum, als es vernünftig wäre (vernünftig ist das, was bewusst auf ein Ziel/Gut gerichtet ist, was bewusst um eines Zieles/Gutes wegen geschieht – z.B. Erholung als Ziel/Gut), tätigkeitslos zu bleiben, betrifft dies den Bereich des Fleißes und der Trägheit.
Sich der Gefühlsbefriedigung hinzugeben, ist nicht per se unmoralisch. Die Gefühlsbefriedigung ist nur in vernunftwidrigen Fällen unmoralisch. Es kann z. B. der Erholung wegen durchaus vernünftig sein, Gefühle zu befriedigen. Menschen brauchen Erholung und Genuss, um sich wieder angemessen intensiv dem Erwerb höherer Güter zuwenden zu können.
Wenn der Mensch durch viele vernünftige Handlungen dazu geneigt ist, mit Leichtigkeit, gerne und sicher (z. B. gewohnheitsmäßig) vernünftig zu handeln, nennt man diesen Umstand „Tugend“. Wenn der Mensch durch viele unvernünftige Handlungen dazu geneigt ist, mit Leichtigkeit, gerne und sicher (z. B. gewohnheitsmäßig) unvernünftig zu handeln, nennt man diesen Umstand „Laster“. In der Tugend ist das sinnliche Strebevermögen durch die Vernunft geformt und vervollkommnet. Es bietet dem Menschen hier einen Anker für moralisch gute Akte. Im Laster ist das sinnliche Strebevermögen dem Menschen ein Hindernis für moralisch gute Akte. Dem Lasterhaften fällt es schwer, moralisch gute Akte zu vollziehen. Die Vernunft ist hier dem sinnlichen Strebevermögen, den sinnlichen Gefühlen untergeordnet. Man könnte auch sagen, dass die Vernunft im Laster den Gefühlen dient.
Der moralische Mensch
Tugenden und Laster bilden gemeinsam die menschlichen (Tätigkeits-)Habitus. Die Habitus sind Qualitäten bzw. Haltungen, die zu bestimmtem Tätigsein disponieren. Es sind Beschaffenheiten, von denen menschliche Handlungen ausgehen. Die Habitus stehen zwischen den menschlichen Vermögen (z. B. Verstand und Willen) und den menschlichen Tätigkeiten (z. B. erkennen und wollen). Die Habitus sind Dispositionen, um gewisse Arten von Tätigkeiten mit Leichtigkeit, gerne und sicher (z. B. gewohnheitsmäßig) auszuführen. Die Habitus werden eigenständig, durch viele Akte einer Tätigkeitsart, erworben. Wenn z. B. viele Akte der Sanftmut vollzogen werden, kann daraus der Habitus – in diesem Fall die Tugend – der Sanftmut hervorgehen. Durch die Tugend der Sanftmut, ist der Tugendinhaber zu Akten der Sanftmut geneigt. Je größer bzw. stärker die Tugend ausgeprägt ist, umso größer bzw. stärker ist die Neigung zu entsprechenden Tugendakten. Die Habitus eines Menschen zusammengenommen ergeben den Großteil seiner moralischen Individualität. Da jeder Mensch jedoch auch von seinen Voraussetzungen bzw. Veranlagungen her einzigartig ist – jeder Mensch hat einzigartige Stärken und Schwächen – und die äußeren Einflussfaktoren moralisches Tätigsein erleichtern und erschweren können, spielen diese beiden Punkte auch eine Rolle bei der moralischen Individualität einer Person.
Die bisherigen Ausführungen über moralisch gutes und schlechtes Tätigsein bezogen sich auf die objektive moralische Wirklichkeit. Neben der objektiven moralischen Wirklichkeit gibt es noch die subjektive moralische Wirklichkeit, die bei jedem Menschen anders ist. Die objektive moralische Wirklichkeit sind allgemeine Prinzipien in Zusammenhang mit dem menschlichen Wesen bzw. in Zusammenhang mit der menschlichen Natur. Die subjektive moralische Wirklichkeit ist der Grad an moralischer Güte oder Schlechtigkeit eines einzelnen Menschen. Den Grad an moralischer Güte oder Schlechtigkeit des Tätigseins einer Person kürzen wir im Folgenden ab mit „Grad der Moral des Tätigseins einer Person“. Der Grad an Moral des Tätigseins einer Person entspricht nicht ausschließlich der objektiv moralischen Wirklichkeit menschlichen Tätigseins. Der Grad an Moral des Tätigseins einer Person schließt den Wissensstand der Person über die objektive moralische Wirklichkeit ein. Wenn also eine Person eine objektiv schlechte Tat vollzieht, ohne jedoch zu wissen, dass die Tat moralisch schlecht ist, dann trägt die Person keine Schuld an der objektiv moralisch schlechten Tat. Natürlich spielt es eine Rolle, ob die entsprechende Person hätte wissen können, dass die vollzogene Tat moralisch schlecht ist. In dem Fall hätte sie durchaus Schuld an ihrer Tat. Würde jedoch die entsprechende Person nicht die Möglichkeit gehabt haben, zu erkennen oder zu wissen, dass besagte Tat schlecht ist, dann wäre sie ohne Schuld an ihrer Tat als moralische Handlung. Die subjektive moralische Wirklichkeit schließt zusätzlich zur objektiven moralischen Wirklichkeit – die wiederum, wie weiter oben gesehen, die Freiheit einschließt – das Wissen der Person über die objektive moralische Wirklichkeit ein. Der Grund dafür, warum das Wissen um die objektive moralische Wirklichkeit bei der subjektiven moralischen Wirklichkeit eine Rolle spielt, ist Folgendes: Wir sahen, dass beide Arten moralischen Handelns – also sowohl diejenige Art, welche sich ausschließlich auf die geistige Ebene des Menschen bezieht, als auch diejenige Art, welche die sinnliche Ebene des Menschen einschließt – die Vernunft als notwendigen Bestandteil der moralischen Wirklichkeit einschlossen. Bei der Art von Moral, die sich nur auf die geistige Ebene des Menschen bezog, war die Vernunft die Voraussetzung – die Wirklichkeit wird nur durch die Vernunft erkannt. Bei der Art von Moral, die auch die sinnliche Ebene des Menschen einschließt, ist es die Vernunft, welche die Handlungsgegenstände – die Güter bzw. Ziele – dem Willen vorschlägt. Die Vernunft ist für die Moral also unerlässlich. Da die Vernunft für moralisch relevantes Tätigsein unerlässlich ist und Unwissen über moralisches Tätigsein in Ermangelung der Vernunft (bzw. von Vernunfterkenntnissen) besteht, kann eine moralisch unwissende Person nicht moralisch relevant tätig sein (Schuld bezieht sich immer auf moralisches Tätigsein) und sie trägt somit keine Verantwortung für ihre Handlung als moralische Tat.
Das Erkennen moralischer Wahrheiten
Die Erkenntnis moralischer Wahrheiten ist nichts Statisches. Es ist auch nicht so, dass Ethik studiert werden muss, um in der Erkenntnis moralischer Wahrheiten zu wachsen. Der Mensch ist ein sich in ständiger Entwicklung befindendes Wesen. Durch die Hinwendung zu den jeweiligen Dingen oder Bereichen, macht der Mensch Fortschritte. Wenn der Mensch regelmäßig durch Bizepscurls trainiert, dann wächst sein Bizeps und wird zudem stärker. Wenn der Mensch regelmäßig Klavierspielen übt, wird er besser im Klavierspielen. Wenn der Mensch regelmäßig Tischtennis spielt, wird er auch darin besser. Genauso ist es im Bereich der Moral. Durch die aktive Bemühung darum, moralisch besser zu werden und durch regelmäßige Selbstreflexion, wird der Mensch tatsächlich moralisch besser und wächst in der Erkenntnis moralischer Wahrheiten. Mit der bewussten und regelmäßigen Auseinandersetzung mit dem eigenen moralischen Tätigsein können zum einen die allgemeinen moralischen Prinzipien zunehmend schneller und präziser bewusst auf den Einzelfall angewendet werden. Zum anderen wächst die Erkenntnis der allgemeinen moralischen Prinzipien. Die Sensibilität für moralische Wahrheiten wird durch Training also geschult.
Genauso verhält es sich mit dem Gewissen. Das Gewissen ist die unterbewusst vollzogene Anwendung der Gesamtheit des Wissens über moralische Wahrheiten auf den Einzelfall, deren Ergebnis sich durch Gefühle ausdrückt, die nicht Teil des sinnlichen Strebevermögens sind. Die Begründung dafür ist Folgendes: Der innere Drang, der zu bestimmten Handlungen hinführen und von anderen Handlungen abhalten möchte, ist das Gefühl, wodurch sich das, was hier als „Gewissen“ bezeichnet wird, ausdrückt. Dieses Gefühl unterscheidet sich von sämtlichen Gefühlen des sinnlichen Strebevermögens. Einer der Hauptunterschiede besteht darin, dass es beim sinnlichen Strebevermögen um die Gefühlsauslebung geht, während es bei den Gefühlen, die mit dem in Zusammenhang stehen, was wir „Gewissen“ nennen, um richtiges und falsches Handeln geht. Dieser innere Drang zu moralischem Handeln muss jedoch irgendwie zustande kommen. Es muss eine Ursache dafür geben, und zwar das, was wir „Gewissen“ nennen. Da es hier um moralisch relevantes Handeln geht, genau genommen um die Erkenntnis moralisch relevanter Handlungen, muss die Ursache – das Gewissen – in der Vernunft begründet sein. Nicht allerdings allgemein in der Vernunft, sondern insofern in der Vernunft, als sie eben konkrete moralische Handlungen als solche erkennt; insofern also, als sie moralische Prinzipien auf den Einzelfall anwendet. Jetzt ist es unseren Erfahrungen nach aber so, dass der Drang des Gewissens auch vorhanden ist, ohne dass wir Menschen bewusst eine Anwendung moralischer Prinzipien auf den Einzelfall vorgenommen haben. Deshalb besteht das Gewissen in der unterbewusst vollzogenen Anwendung der Prinzipien auf den Einzelfall. Die für die Anwendung auf den Einzelfall genutzten moralischen Prinzipien sind nichts anderes als das Wissen um moralische Wahrheiten. Da es unserer Erfahrung nach Fälle gibt, in denen es uns nicht leichtfällt, den Drang des Gewissens bewusst nachzuverfolgen, bedient sich das Gewissen der Gesamtheit des Wissens einer Person, also auch einschließlich der Wissensinhalte, die in tieferen Bewusstseinsschichten verborgener sind.
Mit diesem Gewissen verhält es sich genauso: Es wird durch regelmäßiges Üben trainiert. Dadurch, dass regelmäßig bewusst dem Gewissenentschluss gefolgt wird, dadurch, dass regelmäßig bewusst moralisch gut gehandelt wird, wird das Gewissen verbessert. Diejenigen Punkte, in denen das Gewissen noch falsch liegt, werden weniger und die Sensibilität für feinere moralische Wahrheiten wird größer.
Sein – Sollens – Fehlschluss
Ein in der Ethik gefährlicher Fehlschluss ist der sogenannte „Sein – Sollens – Fehlschluss“. Er entsteht, wenn aus beschreibenden Aussagen normative Aussagen abgeleitet werden sollen. Klassische Beispiele hierfür wäre „Das wurde schon immer so gemacht, also soll es so bleiben“ oder „Klonen ist technisch möglich, also sollten wir es tun“. In beiden Fällen fehlen als Voraussetzungen normative Aussagen, damit der Schluss gültig ist. Beispiele für unsere beiden Fälle an normativen Aussagen als Voraussetzung für die Gültigkeit der Folgerung wären für den ersten Beispielsatz „Alles was schon immer gemacht wurde, soll weiterhin gemacht werden“ und für den zweiten Beispielsatz „Alles was technisch möglich ist, sollte getan werden“. Jetzt wären die Schlussfolgerungen gültig, doch ob das Ergebnis deshalb wahr ist oder überzeugend, ist eine andere Frage (mehr zur Logik und Wahrheitserkenntnis siehe den Artikel „Woher wissen wir, was wahr ist?“).
Diesem Fehlschluss sind wir in den vergangenen Ausführungen entgangen. Darauf soll hier kurz eingegangen werden. Wir haben das moralisch Gute in drei Kategorien unterteilt. Dem Abschnitt mit der ersten Kategorie gaben wir die Überschrift „Erste Art von Demut“, dem Abschnitt der zweiten Kategorie „Zweite Art von Demut“ und dem der dritten „Das moralisch Gute und der sinnliche Mensch“. In der ersten Kategorie ging es um das wirklichkeitsentsprechende Handeln einer Person in Bezug auf sich selbst. In der zweiten Kategorie ging es um das wirklichkeitsentsprechende Handeln einer Person in Bezug auf ein Gegenüber. In der dritten Kategorie ging es um die Handlungen einer Person in Bezug zu ihrem sinnlichen Strebevermögen. In allen drei Fällen war es so, dass entweder nur beschreibende Aussagen getätigt wurden, die die jeweilige Kategorie moralischen Handelns näherbringen sollten, oder, dass wenn normative Aussagen den Inhalten entnommen werden können, diese – zumindest implizit – durch die Bedingung des Kontextes begründet werden, in dem sie von der Oberprämisse abgeleitet werden können, die im normativen Grundprinzip besteht, dass moralisch gut zu handeln sei.
Positive Gesetze und Moral
In diesem Abschnitt gehen wir kurz auf ein wichtiges Thema ein. Es geht um das moralisch Gute, in seiner Beziehung zu den von Menschen gemachten Gesetzen. Vorab sei darauf hingewiesen, dass das oberste Prinzip menschlichen Handelns es ist, das Gute zu tun und das Schlechte zu unterlassen. Dieses Handlungsprinzip betrifft alle Menschen. Es gibt keinen Menschen, der über der Moral steht, oder für den die moralischen Wahrheiten irrelevant wären. Dazu zählen auch und sogar insbesondere die Gesetzgeber. Zum einen sind auch sie an die moralischen Wahrheiten gebunden und zum anderen haben auch die Gesetze im Einklang mit dem moralischen Gutsein zu stehen. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen würden die Gesetzgeber moralisch schlecht handeln, wenn sie Gesetze erheben, die moralisch schlecht sind. Zum anderen beziehen sich die vom Menschen gemachten Gesetze darauf, wie sich die Menschen in einer Gesellschaft zum Vorteil aller Gesellschaftsmitglieder zu verhalten haben. Würden menschengemachte Gesetze nun unmoralisch sein, würde dies im Widerspruch zum eigentlichen Ziel menschlicher Gesetzgebung stehen. Würde es so kommen, dass eine Nation Gesetze verhängt, die moralisch schlecht sind, hätten solche Gesetze keine Bindegewalt. Über jedem Gesetz steht die Moral, an die man sich in Fällen des Widerspruchs zu menschengemachten Gesetzen zu halten hat, wenn gut gehandelt werden soll. Die Moral ist den Gesetzen übergeordnet. Die Gesetze dienen dazu, moralisches Handeln zu erleichtern, zu moralischem Handeln hinzuführen. Unmoralische Gesetze verfehlen den Sinn von Gesetzen, stünden im Widerspruch zu dem, was das Wesen von menschengemachten Gesetzen sein soll und wären somit keine Gesetze. Unmoralische Gesetze sind Zwänge ideologischer Machthaber. Das Handlungsprinzip, dass das Gute zu tun und das Schlechte zu unterlassen sei, ist absolut und allgemeingültig. Es nimmt bezogen auf menschliches Tätigsein (auf praktische Wahrheiten) als Prinzip denjenigen Platz ein, den das Nicht-Widerspruchs-Prinzip (Widersprüche können nicht zugleich wahr sein/Etwas kann in derselben Hinsicht nicht zugleich sein und nicht sein) im Bereich theoretischer Wahrheiten einnimmt (mehr zum Nicht-Widerspruchs-Prinzip siehe den Artikel „Woher wissen wir, was wahr ist?“).
Freiheit und moralisches Gut- und Schlechtsein
Zu Beginn des Artikels sind wir bereits darauf eingegangen, was Freiheit ist und worin sie besteht. Über das hinaus, was dort über Freiheit dargelegt wurde, können noch weitere Hinsichten auf diese bedeutende Eigenschaft eingenommen werden. Freiheit ist nicht nur etwas, das man hat oder nicht hat. Freiheit kann in ihrem Grad variieren. Eine Person kann mehr oder weniger frei sein. Die Freiheit ist etwas, das in uns wachsen kann. Der Grad an Freiheit in uns und die Moral stehen in engstem Zusammenhang.
Wir haben in den Ausführungen über Moral, diese, in zwei Arten unterschieden. Zum einen die Art, die sich nur auf die geistige Wirklichkeit des Menschen bezieht und zum anderen die Art, welche die sinnliche Wirklichkeit des Menschen einschließt. Den Grund des Mangels an Moral kann man bei beiden Arten jeweils in seinem Wesen bestimmen. Beginnen wir mit der Art von Moral, die sich nur auf den geistigen Teil des Menschen bezieht. Wir nannten sie Demut, und sie bestand darin, dass sich willentlich der (handlungsrelevanten) Wirklichkeit untergeordnet wird. Der Mangel dieser Art von Moral besteht dann darin, willentlich die Wirklichkeit abzulehnen. Das Wissen um die Wirklichkeit wird hier vorausgesetzt. Die Wirklichkeit zu verneinen, heißt, die Wirklichkeit nicht zu wollen, in seinem Willen verhärtet zu sein, ein ungeordnetes Ego – in den Punkten der Ablehnung der Wirklichkeit – zu haben. Diese Verbissenheit unterbindet nicht nur ein Wachstum der Freiheit, sondern schränkt sie sogar ein, da die Freiheit immer auf die Wirklichkeit mit ihren Gütern gerichtet ist. An der Stelle jedoch, wo sich hier die Freiheit durch die Wirklichkeit entfalten könnte, wird die Freiheit stattdessen durch das willentliche Verhärtet-Sein, was nichts anderes ist als falsche Ich-Fixiertheit, an ihrer Entfaltung gehindert. Die Güter der Wirklichkeit, welche die Gegenstände des – die Freiheit begründenden – Willens sind und somit zu seiner Verwirklichung führen, werden, um der Illusion des eigenen absoluten – über der Wirklichkeit stehenden – Egos wegen, abgelehnt.
Die andere Art von Moral, die, welche auch den sinnlichen Teil des Menschen einschließt, bestand im vernunftgeleiteten Handeln. Der Mangel dieser Art von Moral ist dann das Handeln entsprechend des vernunftwidrigen sinnlichen Strebevermögens. Dies heißt, dass das sinnliche Strebevermögen einen zu großen Einfluss auf uns und unser Handeln hat, einen zu großen Einfluss auf den Willen, einen zu großen Einfluss auf unsere Freiheit. Dieser Einfluss hebt die Freiheit zwar nicht auf, doch er schränkt sie ein. Die Einschränkung der Freiheit bei einem Mangel an Moral dieser Art hat zur Folge, dass je stärker die Einschränkung, umso geringer das moralische Übel ist. Das liegt daran, dass die Freiheitseinschränkung durch den Einfluss des vernunftwidrigen sinnlichen Strebevermögens hier nicht willentlich geschieht. Bei dem Mangel an Moral der ersten Art – also dem willentlichen Verhärtetsein – ist die Schuld umso höher, je mehr die Freiheit eingeschränkt wird, da die Freiheit hier willentlich eingeschränkt wird. Im echten Leben tritt in der Regel bei unmoralischem Handeln der Mangel beider Arten von Moral gemeinsam auf.
Der Mensch hat viele Anhänglichkeiten bzw. Anhaftungen. Krankhafte Süchte, über die der Mensch keine Freiheit hat, werden hier außenvorgelassen. Außerdem außenvorgelassen werden die in der menschlichen Natur begründeten Abhängigkeiten, wie die soziale Abhängigkeit, die weiter oben dargelegt wurde und jede weitere Art von Abhängigkeit, über die der Mensch keine Freiheit hat, die der Mensch willentlich nicht verändern kann. Jede menschliche Anhaftung bzw. Anhänglichkeit führt zur Einschränkung der inneren Freiheit, der Unvoreingenommenheit der Wirklichkeit mit ihren hierarchischen Gütern gegenüber. Zu den Anhänglichkeiten zählen z. B. das Hängen an Geld, Ruhm oder Sex. Jede menschliche Anhaftung und Anhänglichkeit können zurückgeführt werden auf eine der beiden Arten von Freiheitseinschränkung als Folge des Mangels an Moral. Wir nennen diese beiden Arten ab hier „unmoralische Freiheitseinschränkungen“. Die unmoralischen Freiheitseinschränkungen sind die Voraussetzungen für alle Formen von Anhänglichkeiten bzw. Anhaftungen. Ohne die beiden Arten unmoralischer Freiheitseinschränkungen könnte der Mensch keinerlei Anhaftungen und Anhänglichkeiten gegenüber Gütern haben, sondern würde sich in uneingeschränkter Freiheit den äußeren, körperlichen und geistigen Gütern widmen können. Anhaftungen bzw. Anhänglichkeiten dürfen nicht verwechselt werden mit Gefühlen gegenüber etwas. Mit Anhänglichkeit bzw. Anhaftung ist gemeint, dass man einem Gut einen höheren Wert zuschreibt, als man selbst erkennen kann, dass er eigentlich hat. Die Beziehung der Güter zueinander ist nicht die, dass alle Güter gleichwertig wären. Es gibt eine Hierarchie an Gütern, in der manche Güter wertvoller sind als andere. Das äußere Gut „eine Mahlzeit“ ist z.B. weniger wert als das körperliche Gut „Gesundheit“. Wird die falsche Einordnung der Werthaftigkeit eines Gutes willentlich vollzogen – also ohne Drängen des sinnlichen Strebevermögens –, ist die Anhaftung auf die Art unmoralischer Freiheitseinschränkung zurückzuführen, die sich nur auf die geistige Ebene des Menschen bezieht. Wird die falsche Einordnung der Werthaftigkeit eines Gutes im Handeln aufgrund des Drängens des sinnlichen Strebevermögens ausgedrückt, ist die Anhaftung auf die Art unmoralischer Freiheitseinschränkung zurückzuführen, die den sinnlichen Teil des Menschen einschließt. Hier ist allerdings wichtig hinzuzufügen, dass diese Art der Anhaftung nicht damit zu verwechseln ist, wenn das sinnliche Strebevermögen nicht als Folge der zweiten Art unmoralischer Freiheitseinschränkung stark etwas begehrt. Anhaftung bzw. Anhänglichkeit ist etwas nur dann, wenn noch ein Minimum an Freiheit über sie gegeben ist.
Abschließend wollen wir beide Arten der Anhaftung anhand von Beispielen mit Sex veranschaulichen. Wir beginnen mit der Art von Anhaftung, die durch die erste Art unmoralischer Freiheitseinschränkung begründet wird, mit der willentlich verhärteten Anhaftung. Sex ist ein Gut. Der einmal vollzogene Sexualakt ist ein Gut. Das Leben eines Menschen ist ein Gut. Das Leben eines Menschen ist ein höheres Gut als das Gut des einmal vollzogenen Sexualaktes. Stellen wir uns einen kampfsporterfahrenen Mann vor, wir nennen ihn „Yuri“, der sich auf dem Weg nach Hause zu seiner Frau befindet, um mit ihr Sex zu haben. Yuri drängen gegenwärtig keinerlei Triebe oder Emotionen zum Sex. Plötzlich sieht er, wie auf der Straße ein fremder Mann eine Frau schlägt. Yuri stellt fest, dass der fremde Mann ein neuer Kampfsportschüler von ihm ist, er weiß also, dass er dem fremden Mann körperlich überlegen ist. Darüber hinaus hat Yuri keine Angst davor, zu dem fremden Mann zu gehen, um ihn daran zu hindern, die Frau weiter zu schlagen. Waffen, so denkt Yuri, hat der fremde Mann wahrscheinlich auch nicht dabei. Trotzdem entscheidet sich Yuri nicht dafür, der hilfsbedürftigen Frau zu helfen, die bereits sehr stark zugerichtet ist, sondern geht weiter, um möglichst schnell Sex mit seiner eigenen Frau zu haben. In diesem etwas zugespitzten Beispiel stellt Yuri in voller willentlicher Zustimmung das Gut des Sexualaktes über das Gut des Lebens der fremden Frau.
Nun kommen wir zu einem Beispiel der zweiten Art von Anhaftung, derjenigen, die durch die zweite Art unmoralischer Freiheitseinschränkung begründet wird, die durch das Drängen des sinnlichen Strebevermögens begründeten: die Anhaftung aus Schwäche. Stellen wir uns einen Mann vor, den die Triebe und Emotionen zum Sex mit seiner Frau drängen. Seine Frau hat sich allerdings bedauerlicherweise eine schwere Verletzung am Unterleib zugezogen, sodass ihr Sex große Schmerzen bereiten würde. Der Mann möchte seiner Frau eigentlich nicht wehtun, denn er achtet seine Frau grundsätzlich. Doch aktuell ist der Drang seiner Triebe und Emotionen so groß, dass er, trotz der großen Schmerzen seiner Frau (von der er weiß, dass sie keine Masochistin ist), mit ihr Sex macht. In diesem Fall hat der Mann in seinem Handeln wegen des Drängens seiner Triebe und Emotionen ausgedrückt, dass ihm das Gut des Sexualaktes wichtiger ist als das Gut der Liebe zu seiner Frau.
Das, was alle wollen
Jeder Mensch will glücklich werden. Was sich die Menschen unter dem vorstellen, was sie glücklich macht, unterscheidet sich zwar stark, doch in dem Wunsch, glücklich zu werden, sind sich alle gleich. Sogar diejenigen, die es nicht zugeben wollen, handeln um irgendwelcher Güter oder Ziele wegen, die um ihrer selbst willen erstrebt werden. Das Glück ist das oberste Gut oder das oberste Ziel, welches um seiner selbst willen eigenständig erstrebt und erworben werden kann.
Jeder Mensch hat einen Teil in sich, den er mit allen Menschen gemeinsam hat, nämlich sein Wesen oder seine Natur. Darüber hinaus hat jeder Mensch noch einen anderen Teil in sich, der einmalig ist, den kein anderer Mensch hat, nämlich seine Individualität. Die Individualität eines jeden Menschen setzt allerdings das allgemeine Wesen Mensch bzw. die allgemeine menschliche Natur in jedem Menschen voraus. Mit dem Glück verhält es sich genauso. Es gibt den allgemeinen Teil, dasjenige, durch das alle Menschen insofern glücklich werden, als sie die menschliche Natur haben, als sie vom Wesen her Mensch sind. Darauf aufbauend gibt es bei jedem Menschen, in dem, was glücklich macht, noch das, was auf seine Individualität antwortet. In diesem Artikel wird auf Glück insoweit eingegangen, als es das ist, was jeden Menschen, insofern er Mensch ist bzw. der menschlichen Natur zugehört, betrifft.
Wie wird der Mensch nun glücklich? Wie könnte es etwas anderes sein als durch seine Verwirklichung? Durch seine Verwirklichung/ seine Entfaltung/ seine Erfüllung/ seine Bestimmung wird der Mensch glücklich. Der Mensch besteht aus seinem Körper – der die Sinnlichkeit einschließt – und seiner Seele – die die Geistigkeit einschließt (mehr zum Menschen hinsichtlich seiner Körper – Seele-Einheit, siehe den Artikel „Was ist der Mensch?“). Eine vollständige Verwirklichung des Menschen betrifft den ganzen Menschen. Der menschliche Körper mit dem, wodurch er zu seiner Verwirklichung gelangt, ist Teil der handlungsrelevanten Wirklichkeit. Die handlungsrelevante Wirklichkeit wiederum ist es, wie aus dem Obigen hervorgeht, die infolge des Erkannt-Werdens moralisch bedeutsam wird. Die willentlich vollzogene Verwirklichung des eigenen Körpers hat also auch Einfluss auf den Grad der Verwirklichung des Willens (sowie jede willentlich vollzogene Art von Selbstverwirklichung). Das Gewicht der Verwirklichung einzelner Teile des Menschen für die Erlangung des Glücks ist abhängig von der Vollkommenheit der jeweiligen menschlichen Teile. Aus dem Artikel „Was ist der Mensch?“ ging eindeutig hervor, dass trotz der Vollkommenheit des menschlichen Körpers mit seinen Kräften, der menschliche Geist mit seinen Kräften überlegen ist. Somit muss der menschliche Geist eine größere Rolle – die wesentliche Rolle – bei der Erlangung des Glücks spielen.
An dieser Stelle soll eine kurze Abwandlung eines bekannten Gedankenexperiments hinzugefügt werden, welches zeigen soll, dass Emotions- und Triebbefriedigung keine wesentliche Rolle bei der Erlangung des Glücks spielen: Nehmen wir mal an, dass es möglich ist, durch systematische, künstliche Stimulierung des Gehirns einen andauernden Zustand zu erzeugen, in dem wir Menschen den höchsten uns bekannten Grad an Emotions- und Triebbefriedigung empfinden. Jetzt stellen wir uns vor, wir bekämen von einer einflussreichen Person folgendes Angebot: Wir erhalten das Angebot, die restliche Lebenszeit in diesem Zustand zu verbringen. Da wir in diesem Zustand in eine Art künstlichen Schlaf versetzt sind, ist das einzige uns Mögliche, die Emotions- und Triebbefriedigung wahrzunehmen. Alles Weitere ist uns unmöglich. Darüber hinaus beinhaltet das Angebot, dass dieser Zustand bis zum Tod nicht aufgehoben wird und wir zum Ende unseres Lebens schmerzlos versterben werden. Nun die Frage an die Leser: Würdet ihr dieses Angebot annehmen? Ohne es empirisch verifiziert zu haben, bin ich der Meinung, dass ein Großteil aller Menschen dieses Angebot nicht annehmen würde, da sie wüssten, dass ihnen in diesem Zustand wichtige Dinge nicht zugänglich wären, wie z. B. Sinn, Liebe und reale Erfahrungen.
Kommen wir nun zurück zu vor dem Gedankenexperiment. Dort folgerten wir, dass im Menschen der menschliche Geist die größte Rolle bei der Erlangung des Glücks spielt. Die Verwirklichung des Verstandes und des Willens ist also wesentlich, um glücklich zu werden. Der Gegenstand des Verstandes ist die Wahrheit und der Gegenstand des Willens ist das Gute. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass das Ziel des Verstandes es ist, die Wahrheit zu erkennen und das Ziel des Willens es ist, das Gute zu erstreben. Darüber hinaus sahen wir weiter oben bereits, dass Verwirklichung durch Tätigsein erreicht wird. Durch die Tätigkeit des Erkennens der Wahrheit, entfaltet sich der Verstand und durch die Tätigkeit des Erstrebens und Erhaltens des Guten, entfaltet sich der Wille. Der Grad der Entfaltung ist abhängig von der Größe und Vollkommenheit der erkannten Wahrheit und des willentlich erstrebten und erworbenen Gutes. Die Wahrheit, ob es einen Sinn im Leben gibt und worin er besteht, ist beispielsweise höher als die Wahrheit der Beschaffenheit von Reis. Das Gut der Freundschaft ist beispielsweise vollkommener als das Gut des Genusses einer Zigarre. Je größer und vollkommener die erkannte Wahrheit, umso größer die Verwirklichung des Verstandes. Je höher und vollkommener das willentlich erstrebte und erworbene Gut, umso größer die Verwirklichung des Willens. Der Maßstab für die Vollkommenheit von Wahrheiten besteht darin, inwieweit Wahrheiten die Wirklichkeit als Ganzes verstehbar machen; inwieweit Wahrheiten das Sein im Allgemeinen erklären; inwieweit Wahrheiten das Wesen der Realität entschlüsseln. Bei Gütern gibt es drei Gütergattungen, auf die alle Güter zurückgeführt werden können: äußere Güter, körperliche Güter und geistige Güter. Der Maßstab für die Vollkommenheit von Gütern besteht im Grad der Geistigkeit der Güter.
Zu den erfüllendsten Fragen, denen sich der menschliche Verstand zuwenden kann, zählen die oft als existenzielle oder metaphysische Fragen bezeichneten Fragen. Herausstechen tut hier besonders die Frage nach der Existenz und dem Wesen Gottes. Über das erfüllendste Gut haben wir in diesem Artikel bereits ausführlicher gesprochen. Das erfüllendste Gut, welches der Wille eigenständig erwerben kann, ist das moralisch Gute. Beim moralischen Guten spielt die Nächstenliebe (die Existenz-/Seins-Bejahung der Nächsten; dem Nächsten Gutes wollen und tun) eine entscheidende Rolle, denn sie ist es, die den sozialen Teil der menschlichen Natur vollendet. Dadurch, dass die Nächstenliebe den sozialen Teil des eigenen Wesens verwirklicht, ist jeder Akt der Nächstenliebe gleichzeitig auch ein Akt wahrhaftiger Eigenliebe. Wichtig ist allerdings, im Vollzug der Nächstenliebe nicht die Eigenliebe zu beabsichtigen, da dies sonst Egoismus wäre. Wahre Nächstenliebe übersteigt sich selbst in der Absicht. Durch ein weiteres Gedankenexperiment soll gezeigt werden, dass die selbst vollzogene Nächstenliebe mehr glücklich macht, als Nächstenliebe zu empfangen inkl. einer Reihe weiterer Güter, die von vielen Menschen als erstrebenswert angesehen werden: Stellen wir uns eine Person vor, wir nennen sie einfach „Moab“. Moab ist jemand Besonderes, denn Moab ist sehr beliebt, sehr reich und sehr mächtig. Beliebt ist Moab, da er von jedem Menschen geliebt wird. Jeder Mensch freut sich darüber, Moab zu sehen und ihm Komplimente und Geschenke machen zu dürfen. Reich ist Moab, da er sich alles, was er an käuflichen Gütern begehrt, finanziell leisten kann und sein finanzielles Vermögen im Vergleich zu den finanziellen Vermögen aller anderen Menschen das größte ist. Mächtig ist Moab, da er von den Menschen zum politischen Herrscher der Welt gewählt wurde. Trotz der großen Errungenschaften Moabs, ist er innerlich ohne Liebe. Niemanden liebt er, für keinen hat er Liebe übrig. Stellen wir uns als Nächstes eine andere Person vor, wir nennen sie hier „Amaia“. Amaia ist auch jemand besonderes, doch auf eine andere Weise als Moab. Amaia ist nämlich weder beliebt, noch reich, oder mächtig. Amaia wird von allen Menschen übersehen. Niemand interessiert sich für Amaia. Darüber hinaus hat sie nur so viel Geld zu Verfügung, dass sie damit gerade einmal ihren Lebensunterhalt finanzieren kann. Politisch ist Amaia auch nicht aktiv. Das besondere an Amaia ist es, dass sie jeden Menschen liebt, dem sie begegnet. Sie freut sich über das Gut eines jeden Menschen und denkt über jeden Menschen positiv.
Jetzt die Frage: Wer ist wohl mehr glücklich, Moab oder Amaia? Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder, der ehrlich ist und sich angemessen auf dieses Gedankenexperiment einlässt, zugeben wird, dass Amaia glücklicher ist als Moab. Natürlich ist dieses Gedankenexperiment noch deutlich ausschmückbarer, doch die Wahrheit, die es vermitteln soll, wird sicherlich auch so klar geworden sein.
Kommen wir nun kurz zu einem weiteren wichtigen Punkt bei dem, wodurch wir glücklich werden, nämlich die Freiheit. Die Freiheit war zunächst einmal die Voraussetzung für moralisches Handeln. Dann sahen wir allerdings auch noch, dass wir sie in einem variierbaren Grad besitzen können. Da Freiheit unserem geistigen Wesen entspricht, führt ein Wachstum an Freiheit zu unserer wesentlichen Verwirklichung. Ein Wachstum an Freiheit steigert also unser Glück. Weiter oben in diesem Artikel sahen wir bereits, dass mehrere moralisch gute Akte ein Wachstum an Freiheit zur Folge haben. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Achtsamkeit und Meditation in hohem Maße zur Überwindung von Anhänglichkeit und Anhaftung führen können.
Fassen wir unsere gewonnenen Erkenntnisse darüber, wie wir glücklich werden, einmal zusammen. Glücklich wird der Mensch dadurch, er verwirklicht bzw. entfaltet wird. Bei der Verwirklichung des Menschen hat auf das Glücklichwerden die Verwirklichung desjenigen Teils des Menschen oder derjenigen menschlichen Kräfte einen höheren Einfluss, die vollkommener sind. Je vollkommener, umso größer das Glück. Die Güter des Geistes – moralisches Gutsein (insbesondere die Liebe), Erkenntnis höchster Wahrheiten und Freiheit – sind also diejenigen, durch die der Mensch im Wesentlichen glücklich wird. Im weiteren Sinne gibt es noch weitere Punkte, die Einfluss auf unser Glück haben, wie z. B. die Verwirklichung des menschlichen Körpers oder äußere Einflussfaktoren, doch ihr Einfluss ist ein unwesentlicher, aber kein unbedeutender.
Bereits oben wurde beim Abschnitt „Zweite Art von Demut“ darauf hingewiesen, dass die Frage nach moralischen Handlungskonsequenzen für den Fall der Existenz Gottes in diesem Artikel offenbleibt, da sich hierfür zunächst einmal der Frage nach der Existenz Gottes gewidmet werden muss, wofür in diesem Artikel jedoch kein Platz ist. Dieser Frage wird sich in einem anderen Artikel zugewandt. Auch die Frage nach dem Glück bleibt hier insoweit offen, als die Frage nach Gott noch unbeantwortet ist. Würde Gott nämlich existieren, hätte dies natürlich Einfluss auf die Frage nach dem Glück: Bei der Moral hätte die Frage nach dem Einfluss der Existenz Gottes auf unser Glück Bedeutung, da die Existenz Gottes moralische Verpflichtungen Gott – als Ursprung, Erhalter, Ziel und Vollender menschlichen Seins – gegenüber mit sich brächte, wie z. B. Beziehung, Verehrung, Dank und Gehorsam. Bei der Erkenntnis höchster Wahrheiten hätte die Existenz Gottes insofern Bedeutung, als Gott die höchste Wahrheit wäre. Bei der Freiheit hätte die Existenz Gottes insofern Bedeutung, als der Akt der Bejahung Gottes in voller Weise dem Wesen des Menschen entspräche. Somit ist der Akt der willentlichen Bejahung Gottes den höchsten Akten menschlicher Freiheit zuzurechnen.
Glückseligkeit
Mit Glückseligkeit ist die Vollendung des Menschen gemeint; das vollkommene Glück des Menschen; die Vollendung menschlichen Glücks. Es ist der Zustand, in dem der Mensch absolut glücklich ist, in dem der Mensch mehr hat, als ihm zu erstreben möglich ist, in dem mehr als alle Wünsche und Hoffnungen des Menschen wahr geworden sind. Es ist ein Zustand, bei dem der Mensch, selbst über eine unbegrenzt lange Dauer, innerlich mit unermesslichem Glück erfüllt ist.
Dieser Zustand von Glückseligkeit ist eine schöne Vorstellung, doch ist er auch real möglich? Gibt es real ein Gut, welches uns vollendet, welches uns glückselig machen kann? Eines sollte klar sein: In diesem Leben gibt es ein solches Gut nicht. Egal welche Güter oder Wünsche wir uns vorstellen, ob z.B. Reichtum, Macht, Freundschaft, Familie, Tugend, Liebe, Wissen und noch vieles mehr und dazu zu einem unerreichbar hohen Grad, im Angesichte einer unendlichen Dauer verliert alles an Bedeutung. Gerne kann dies auch im Rahmen eines Gedankenexperimentes betrachtet werden: Stellen wir uns einmal das vor, was wir am meisten begehren (es können auch mehrere Dinge sein) und versuchen uns in die Lage hineinzuversetzen, in der wir das Begehrte besitzen. Dann stellen wir uns vor, dass wir das begehrte Gut einige Zeit lang besitzen, dann über die Dauer eines Jahres, dann über die Dauer von zehn Jahren, von zwanzig Jahren, von fünfzig, von hundert, tausend, zehntausend, Einhundertmilliarden und unendlich lange. Egal was wir uns vorstellen – selbst das Gut des Erstrebens immer weiterer Güter – irgendwann wird, bei tieferem Eintauchen in das Gedankenexperiment, der Tod das einzig erstrebenswerte Gut, im Angesichte einer nicht endenden Dauer dieses Lebens, werden.
Wenn es Glückseligkeit gäbe, wie müsste sie sein, um uns zu vollenden? Zwei Punkte müssen erfüllt sein. Zum einen muss sie unser Verlangen des Strebens nach Gütern stillen, da sie selbst das größtmögliche Gut ist. Die Glückseligkeit muss als Gut so groß sein, dass in ihrem Besitz kein weiteres Gut mehr erstrebenswert ist. Die Glückseligkeit muss als Gut so groß sein, dass in ihrem Besitz alle weiteren Güter keine Steigerung an Güte, Glück oder Vollendung bewirken könnten. Darüber hinaus darf die Glückseligkeit über eine unendliche Dauer nicht an Wert, Bedeutung, Interesse oder Qualität für den Menschen verlieren, was dem Menschen auch bewusst sein sollte. Der Grund dafür ist in einem der vorigen Artikel bereits dargelegt worden. Im Artikel „Was ist der Mensch?“ sahen wir nämlich, dass die menschliche Geistseele nicht durch das aufhört zu existieren, was allgemein als „Tod“ bezeichnet wird, dass die menschliche Geistseele also nicht sterblich – sondern unsterblich – ist.
Der Teil des Menschen, auf den sich die Glückseligkeit im Wesentlichen beziehen müsste, ist der vollkommenste, bedeutendste und wesentlichste Teil des Menschen, nämlich der menschliche Geist. Dieser ist es übrigens auch, der, wie im Artikel „Was ist der Mensch?“ gesehen, unsterblich ist. Der menschliche Geist war das, was mit Verstand und Willen ausgestattet ist. Die menschliche Vollendung bezöge sich im Wesentlichen also auf den Verstand und den Willen.
Der Verstand erkennt Wahrheiten. Im Erkennen der Wahrheit kann der Verstand einen unterschiedlich hohen Grad an Unmittelbarkeit haben. Im Artikel „Woher wissen wir, was wahr ist?“ sahen wir z. B., dass die Erkenntnis von Prinzipien einen deutlich höheren Grad an Unmittelbarkeit hat als die Erkenntnisse durch Schlussfolgerungen. Außerdem sahen wir im Artikel „Woher wissen wir, was wahr ist?“, dass der menschliche Verstand über äußere und innere Sinne zur Erkenntnis vordringt. Würde dem Verstand grundsätzlich die Möglichkeit zukommen, ohne die Sinne erkennen zu können, wäre diese Art des Erkennens deutlich unmittelbarer. Je unmittelbarer, umso vollkommener das Erkennen. In der Glückseligkeit müsste der Verstand also, damit ihm nichts fehlt, größtmöglich unmittelbar erkennen. Natürlich gibt es auch noch Anforderungen an dasjenige, was im Zustand der Glückseligkeit erkannt wird. Der Gegenstand des Erkennens muss die Qualität haben, so vollkommen zu sein, dass der menschliche Verstand sich nichts Vollkommeneres vorstellen kann. Darüber hinaus muss der Gegenstand des Erkennens unerschöpflich sein, und zwar über eine unbegrenzte Dauer. Der Gegenstand des Erkennens in der Glückseligkeit darf über eine unendliche Dauer nicht vollständig erkannt werden können, da er sonst an Wert für den Erkennenden verliert. Das wiederum heißt, der Gegenstand des Erkennens muss selbst unendlich und absolut sein, der Gegenstand muss das sein, was „Gott“ genannt wird. Die Vollendung des Verstandes besteht also darin, dass er auf die ihm größtmöglich unmittelbare Weise Gott schaut, und zwar der Dauer nach unendlich lange, mit der Gewissheit darum.
Der Wille erstrebt bzw. begehrt Güter. Das Gut, welches den Willen am meisten verwirklicht, wie wir sahen, war das moralisch Gute. Doch auch das moralisch Gute, zumindest so, wie wir es bisher durchgenommen haben – die Frage der Beziehung zu Gott ausgeklammert – vermag als Gut den Willen nicht zu vollenden. Im Angesichte einer endlosen Dauer vermag es den Willen nicht zu befriedigen, geschweige denn zu erfüllen. Würde es die Glückseligkeit geben, muss es also für den Willen ein begehrbares Gut geben, welches das moralisch Gute, so wie wir bisher auf es eingegangen sind, übersteigt und dessen Erwerb nicht ausschließlich vom menschlichen Willen abhängt. Dieses Gut kann nichts anderes sein als Gott bzw. die Vereinigung mit Gott. Die, in beidseitiger Liebe der Beziehungspartner vollzogene, Vereinigung von uns begrenzten Menschen mit dem Absoluten, würde selbst im Angesichte einer nicht endenden Dauer den menschlichen Willen erfüllen.
Die menschliche Natur drängt den Menschen dazu, immer weiter nach Gütern zu streben. Es gibt keine Anzahl an begrenzten Gütern, nach denen dieses Verlangen gestillt wäre, und es gibt auch kein begrenztes Gut, durch das dieses Verlangen gestillt würde. Natürlich kann versucht werden, diesem Verlangen der eigenen Natur durch Genügsamkeit entgegenzutreten und es in seiner Intensität zu beeinflussen. Absterben lassen kann man dieses Verlangen jedoch genauso wenig, wie die eigene menschliche Natur veränderbar ist.
Würde es nun menschliche Vollendung durch ein unbegrenztes Gut – durch Gott – geben, so wie es hier vorgestellt wurde, dann könnte unsere Natur nicht länger nach weiteren Gütern verlangen, da ihr an Gutem mehr zur Verfügung steht, als sie je aufnehmen könnte; da ihr maximales Maß an erfülltsein für immer erreicht ist. Unabhängig davon, ob es Gott nun gibt oder nicht, hat unsere Natur unstillbares Verlangen nach weiteren Gütern, nach Gutem, bis sie mit Gott vereint ist. Unabhängig davon, ob es Gott gibt oder nicht, kann der Mensch nur durch Gott zu seiner Vollendung gelangen. Ohne dass die Frage nach der Existenz Gottes beantwortet wurde, kann festgestellt werden, dass der Mensch auf Gott hin geordnet ist.
Würde es Glückseligkeit und Vollendung für den Menschen geben, würde es auch Gott geben. Gott wäre dann der Letztbegründer unserer menschlichen Natur. Als absolut vollkommen, würde Gott dem Menschen auch ermöglichen, die Vollendung zu erreichen. Seine Vollendung könnte in dem Fall der Mensch dadurch erreichen, dass er in seinem Handeln dem Willen Gottes entspricht. Der Wille Gottes darüber, wie der Mensch zu handeln hat, müsste – da Gott vollkommen ist – dem Menschen zugänglich sein. Der Wille Gottes darüber, wie der Mensch zu handeln hat, könnte sich in der menschlichen Natur zeigen. Die menschliche Natur ist tatsächlich auf ihre Verwirklichung aus, die in moralischem Gutsein erreicht wird. Das moralisch Gute wäre demnach das, was Gott möchte, wie wir handeln. Das moralisch Gute wäre demnach auch das, was uns Menschen zu unserer Vollendung hinführt – sei es, dass wir uns durch das moralisch Gute die Vollendung verdienen, oder dadurch, dass wir uns durch das moralisch Gute der Vollendung öffnen, uns durch das moralisch Gute der Vollendung gegenüber empfangsbereit machen.
In diesem Artikel sahen wir, dass die Ausdrücke „Moral“, „moralisches Handeln“ und „moralisches Gutsein“ nicht inhaltsleer sind. Diesen Ausdrücken ist dem Rahmen der Länge dieses Artikels entsprechend Inhalt zugekommen. Natürlich ist über das Maß dieses Artikels hinaus noch weit mehr über das Thema zu sagen. Die Inhalte sollten eine kleine Einführung in die Thematik darstellen. Einige der offen gelassenen Punkte dieses Artikels, sollen in folgenden Artikeln fortgesetzt werden. Zur weiterführenden Lektüre, die auch teilweise die Grundlage der Inhalte dieses Artikels sind, seien die Werke Thomas von Aquins, insbesondere S.Th. I–II und S.Th. II–II und entsprechende Werke des Verlags „Editiones Scholasticae“ empfohlen.
Indem das eigne Innere wird gut und rein,
würde die Welt schon etwas besser sein.