Jeder Mensch hat Überzeugungen. Jeder hält irgendetwas für wahr. Selbst davon auszugehen, dass es keine Wahrheit gibt oder es besser ist, keine Überzeugungen zu haben, sind Überzeugungen und Für-Wahr-Haltungen. Doch woher wissen wir, was wahr ist, oder welche Überzeugungen richtig sind? Was sind die Kriterien von Wahrheit und Wissen und gibt es überhaupt Wahrheit und Wissen? Woran können wir erkennen, dass das, was wir für richtig halten, auch wirklich richtig ist? Wie können wir uns sicher sein, dass es überhaupt etwas gibt? Diesen und weiteren Fragen ist der Artikel hier gewidmet. Er versucht systematisch, sich den Fragen nach Wahrheit, Erkennen, Wirklichkeit und Wissen zuzuwenden. Der Standpunkt des Artikels ist der, dass eine bewusstseinsunabhängige Wirklichkeit für existent gehalten wird und es uns Menschen möglich ist, diese Wirklichkeit zu erkennen. Der Artikel beginnt mit Beispielen basaler Erfahrungen, die allgemein – und auch in diesem Artikel – als wahr angenommen werden. Darauf aufbauend wird der Grund für die Wahrheit gesucht. Dabei nähert man sich über Inhalte aus der Logik, dem Kriterium für die Wahrheit. Anschließend wird näher auf das Kriterium eingegangen, welches auch in Beziehung zu verschiedenen Arten des Erkennens gesetzt wird. Hierzu zählen das Sinnes- und das Verstandeserkennen. Währenddessen wird auch auf das Thema „Täuschungen“ eingegangen. Zum Ende des Artikels wird sowohl auf Theorien eingegangen, die im Widerspruch zu den Inhalten dieses Artikels stehen, als auch Frage-Antwort-Konstellationen dargelegt, die die Inhalte des Artikels vertiefen sollen. Zum besseren Verständnis werden manche Punkte mehrfach wiederholt.
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In unserem Alltag setzen wir ganz selbstverständlich und meist unreflektiert basale Gegebenheiten als wahr voraus. Wenn wir miteinander verbal kommunizieren, gehen wir davon aus, dass unser Gegenüber die Wörter versteht, die wir zu ihm sprechen. Wir gehen noch vor jeder verbalen Kommunikation davon aus, dass Sprache eine Möglichkeit ist, sich zwischenmenschlich auszudrücken. Überdies setzen wir die Existenz von uns selbst und anderen voraus. Diese und andere basale Gegebenheiten als wahr anzunehmen, ist richtig. Wenn mehrere Menschen unter denselben Wörtern das gleiche verstehen, muss es wahr sein, dass die Wörter eine bestimmte Bedeutung haben. Wenn ich zu anderen Menschen spreche, muss es wahr sein, dass ich die Bedeutung der von mir gesprochenen Wörter verstehe. Es ist wahr, dass jeder, der diese Zeilen liest, existieren muss, um diese Zeilen lesen zu können, und wenn jemand von einem Bus überfahren wird, muss der Bus von demjenigen verschieden sein, der überfahren wird.
Wir Menschen zeigen unbeabsichtigt durch unser Denken, Sprechen und Handeln, dass es Wirkliches und Wahres gibt und dass wir Wirkliches und Wahres erkennen können. Wenn ich etwas denke, muss es wirklich und wahr sein, dass ich an dieses Etwas denke. Wenn ich weiß, dass es wirklich und wahr ist, dass ich an dieses Etwas denke, muss ich Wirkliches und Wahres erkennen können, um dies zu wissen. Diese fundamentalen Wahrheiten, dass es Wirkliches und Wahres gibt und dass wir Wirkliches und Wahrheit erkennen können, erfahren wir Menschen täglich. Die gegenteilige Annahme, es gäbe keine Wirklichkeit und Wahrheit und wir könnten nichts erkennen, ist selbstwidersprüchlich. Jemand, der daran zweifelt, dass es Wirkliches und Wahres gibt, hält es nämlich für wirklich und wahr, dass es keine Wirklichkeit und Wahrheit gibt, und jemand, der daran zweifelt, dass wir Wirkliches und Wahres erkennen können, dürfte seiner Überzeugung nach nicht erkennen können, dass wir Wirkliches und Wahres nicht erkennen können.
Mit „Wirklichkeit“ ist das gemeint, was ist. Das von menschlichen Bewusstseinsinhalten unabhängige Sein. Mit „Wahrheit“ ist die Übereinstimmung von Wirklichkeit und Erkennen gemeint.
Wissen erhalten wir durch Erkenntnisse und das Erkennen von uns Menschen ist sehr umfangreich. Es gibt verschiedene Arten und Gegenstände menschlichen Erkennens. Zu den Arten menschlichen Erkennens zählen das Sinnliche und das Verstandesmäßige. Zu den Gegenständen zählt alles, worauf wir uns mit unseren Sinnen und mit unserem Verstand richten können. Wenn wir also wissen wollen, anhand von welchem Kriterium (bzw. welcher Kriterien) wir erkennen können, ob unser Erkennen wahr ist, sollten wir uns zunächst in einen der verschiedenen Bereiche menschlichen Erkennens hineinwagen. Somit können wir die Erkenntnisse aus dem Bereich menschlichen Erkennens, mit dem wir beginnen, dazu nutzen, allgemeingültige Wahrheiten menschlichen Wissens zu erarbeiten, um uns dem Kriterium (bzw. den Kriterien) authentischen Wissens, sowie von Wahrheit, zu nähern.
Logische Grundsätze
Beginnen wir mit dem Bereich menschlichen Erkennens, in dem es um das richtige Denken selbst geht, nämlich der Logik. Die Untersuchung der Struktur von Argumenten und Beweisen im Hinblick auf deren Gültigkeit, zählt zu den Aufgaben der Logik. In der Logik gibt es eine Beweisform, deren Schlussfolgerungen mit Notwendigkeit gültig sind. Sie heißen deduktive Beweise. Bei deduktiven Beweisen wird von Allgemeinem auf Spezifisches geschlossen. Ein deduktiver Beweis setzt sich aus zwei Voraussetzungen (Prämissen) in Form von Aussagen und einer Schlussfolgerung (Konklusion) in Form einer Aussage zusammen. Die beiden Prämissen werden als wahr vorausgesetzt. In der ersten Prämisse wird Allgemeinem etwas zugesprochen. In der zweiten Prämisse wird etwas Spezifisches dem Allgemeinem der ersten Prämisse zugerechnet. In der Konklusion wird dem Spezifischen der zweiten Prämisse dasjenige zugesprochen, was in der ersten Prämisse dem Allgemeinem zugesprochen wurde. Beispiele: Alle Menschen sind vernunftbegabt (Prämisse eins). Baha ist ein Mensch (Prämisse zwei). Baha ist vernunftbegabt (Konklusion). Alle Schwäne sind weiß (Prämisse eins). Das Tier vor mir ist ein Schwan (Prämisse zwei). Das Tier vor mir ist weiß (Konklusion).
Wenn in der Logik ein Satz direkt bewiesen werden soll, wird der direkt zu beweisende Satz immer durch andere Sätze bewiesen. Mit „direktem Beweis“ ist der deduktive Beweis gemeint. Es gibt noch eine indirekte oder negative Beweismöglichkeit, in der alle möglichen Alternativen widerlegt werden, sodass nur noch eine Option bleibt, die dann wahr sein muss. Wenn in diesem Abschnitt von Beweisen die Rede ist, ist damit nur der direkte, deduktive Beweis gemeint. Die Beweiskraft des bewiesenen Satzes (also der Konklusion) wird von den beweisenden Sätzen (den beiden Prämissen) abgeleitet. Jetzt kann gefragt werden, ob logisch gesehen jeder Satz, der als wahr angenommen wird, bewiesen werden kann. Wenn wir annehmen, dass jeder Satz beweisbar ist, dann stehen uns zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Erstens davon auszugehen, dass jeder Satz durch andere Sätze bewiesen wird, dass also die Reihe der beweisenden Sätze ins Unendliche zurückgeht. Zweitens, dass die beweisenden Sätze irgendwann dort enden, wo sie begannen, dass also ein riesiger Kreis sich gegenseitig beweisender Sätze besteht. Gegen die erste Annahme spricht zum einen, dass die bewiesenen Sätze ihre Beweiskraft von etwas anderem abgeleitet haben. Wenn nun jedoch jeder Satz bewiesen werden kann, hat jeder Satz seine Beweiskraft nur abgeleitet und kein Satz hätte aus sich die Kraft zu beweisen. Somit käme erst keine Beweiskraft zustande. Zum anderen spricht gegen die erste Annahme, dass es nicht unendlich viele Begriffe und Sätze bzw. Aussagen gibt. Gegen die zweite Annahme spricht, dass wenn das zu Beweisende als wahr vorausgesetzt wird, kein Beweis zustande kommt. Es kann also nicht jeder Satz bewiesen werden. Da es jedoch Beweise gibt, muss es demnach erste Sätze (Grundsätze) geben, die aus sich selbst heraus wahr sind.
Wir wollen diesen Gedankengang verfestigen, indem wir das Dargelegte an etwas anderem veranschaulichen. Wenn, wie im Bisherigen vorausgesetzt, Beweisführungen möglich sind, bleiben logisch gesehen drei Optionen als Erklärung für die Möglichkeit von Beweisen: zum einen, dass alles bewiesen werden kann durch eine Reihe von Beweisenden, die ins Unendliche zurückgeht. Als Zweites, dass alles bewiesen werden kann, durch einen Kreis sich gegenseitig Beweisender, der dort endet, wo er anfing, und Drittens, dass nicht alles bewiesen werden kann, sondern bestimmte, nicht beweisbare und aus sich selbst heraus wahre Grundsätze Beweise ermöglichen. Wie wir sahen, kann nur die dritte Option stimmen. Genauso ist es, wenn wir mit unserem Verstand Begriffe definieren. Wenn wir als wahr voraussetzen, dass unser Verstand Begriffe definieren kann – die Bedeutung der Wörter hier zu verstehen, setzt bekannte Begriffsdefinitionen voraus –, bleiben logisch gesehen drei Optionen für die Erklärung dafür: Zum einen, dass jeder Begriff durch andere Begriffe definiert wird, in einer Kette an Begriffen, die bis ins Unendliche zurückgeht. Zweitens, dass jeder Begriff durch andere Begriffe definiert wird, in einem Kreis an Begriffen, die sich gegenseitig definieren, und drittens, dass es erste Begriffe gibt, die nicht definierbar sind und trotzdem als verstanden vorausgesetzt werden. Auch hier, bei der Begriffsdefinierung, sind die Optionen eins und zwei nicht möglich, da sie vom Prinzip her aus denselben Gründen eine Begriffsdefinition verhindern, wie die ersten beiden Optionen bei der Beweisführung verhindern, dass Beweise zustande kommen. Also muss bei der Begriffsdefinierung auch Option drei richtig sein. Es muss Begriffe geben, die einleuchtend sind, ohne durch andere Begriffe definiert werden zu können. Wollen wir wissen, welche diese Begriffe sind, müssen wir verstehen, wie Begriffe definiert werden. Hierfür muss das Verhältnis von Art zu Gattung bekannt sein. Dieses Verhältnis soll durch folgende Beispiele veranschaulicht werden: Das Verhältnis von „Karpfen“ zu „Fisch“ entspricht dem Verhältnis von Art zu Gattung. Das Verhältnis von „Fisch“ zu „Tier“ entspricht dem Verhältnis von Art zu Gattung. Das Verhältnis von „Tier“ zu „Lebewesen“ entspricht dem Verhältnis von Art zu Gattung. Wenn ein Begriff definiert werden soll, muss der Begriff auf eine Gattung zurückgeführt und von anderen Arten derselben Gattung unterschieden werden. Dies geht so lange, bis wir bei Begriffen angekommen sind, die wegen ihres hohen Grades an Allgemeinheit auf keine Gattung zurückgeführt werden können. Demnach ist der erste und allgemeinste verstandene Begriff „Seiendes“ bzw. „Sein“. An dieser Stelle sei vorab auf das Verhältnis zwischen dem, was hier „Definition“ genannt wird, und dem Wesen von etwas hingewiesen. Das Wesen ist das, was etwas ist. Die Definition ist die Bestimmung der wesentlichen Merkmale von etwas bzw. ist sie die sprachliche Formulierung des Wesens von etwas. In den Dingen und Lebewesen befinden sich ihre jeweiligen Wesen. Die verstandenen Wesen in unserem Bewusstsein sind die Definitionen der Dinge und Lebewesen. Der Ausdruck „Wesen“ wird im weiteren Verlauf noch mehrfach genutzt.
Doch nun zurück zu den ersten Grundsätzen der Logik. Die Grundsätze der Logik sind es, die Beweise ermöglichen, ohne selbst positiv (deduktiv) bewiesen werden zu können. Die logischen Grundsätze werden bei jedem Beweis und teilweise sogar bei jedem Denkakt als wahr vorausgesetzt. Zu den Grundsätzen der Logik zählen z.B. folgende Sätze. Erstens: Wenn eine Eigenschaft für alle Dinge gilt, die zu einer bestimmten Gruppe gehören, dann muss sie auch für jedes einzelne Ding in dieser Gruppe gelten. Zweitens: Etwas kann in derselben Hinsicht nicht zugleich sein und nicht-sein, bzw. Widersprüche können nicht zugleich wahr sein. Das erste Beispiel gilt für alle deduktiven Beweise und das zweite für jeden Denkakt. Diese beiden Beispiele von Grundsätzen können zwar nicht positiv, also direkt bzw. deduktiv bewiesen werden, jedoch indirekt und negativ, insofern man deren Leugnung auf einen Widerspruch zurückführt. Wenn der erste Beispielsatz nicht gültig wäre, würde ein Ding, welches zu einer bestimmten Gruppe gehört, eine bestimmte Eigenschaft zugleich haben und nicht haben. Wenn der zweite Beispielsatz nicht gültig wäre, würden Widersprüche zugleich wahr und nicht wahr sein, Wörter hätten eine bestimmte Bedeutung und zugleich diese bestimmte Bedeutung nicht und wir würden zugleich existieren und nicht existieren.
Wie gesehen ist es in der Logik möglich, etwas als wahr zu beweisen. Ferner ist es jedoch auch möglich, etwas als wahr zu erkennen, ohne es beweisen zu können, nämlich die Grundsätze, die aus sich selbst heraus wahr sind. Die Wahrheit der Grundsätze ist die Voraussetzung für die Wahrheit des Bewiesenen. Das Bewiesene ist mittelbar wahr und die Grundsätze sind unmittelbar wahr. Würde es keine aus sich selbst heraus wahren Grundsätze geben, könnte es keine Beweise geben. Doch in welchem Verhältnis stehen die logischen Grundsätze zur Wirklichkeit? Nehmen wir uns zur Lösung dieser Frage den allgemeinsten logischen Grundsatz zur Hilfe. Wir haben ihn bereits kennengelernt. Er besagt, dass Widersprüche nicht zugleich wahr sein können. Hat dieser Grundsatz nur Geltung in unserem Denken, oder auch über unser Denken hinaus? Die Tatsache, dass dieser Grundsatz in unserem Denken gültig ist, setzt voraus, dass er in der Wirklichkeit außerhalb unseres Denkens auch gültig ist. Die Wahrheit, dass der Grundsatz logisch gültig ist, kann in der objektiven Wirklichkeit ja nicht zugleich sein und nicht sein. Darüber hinaus muss es der objektiven Wirklichkeit nach wahr sein, dass der Grundsatz in unserem Denken wahr ist, wenn der Grundsatz in unserem Denken wahr sein soll. Weil der Grundsatz in der Wirklichkeit gültig ist, ist er in unserem Denken gültig. Was für das Verhältnis zwischen dem allgemeinsten logischen Grundsatz und der objektiven Wirklichkeit gilt, zählt auch für die Verhältnisse zwischen den anderen logischen Grundsätzen und der objektiven Wirklichkeit: Weil ein Grundsatz objektiv gültig ist, ist er auch in unserem Denken gültig. Weitere objektive und logische Grundsätze sind – als kurze Nebenerwähnung – der Kausalgrundsatz und der Grundsatz des zureichenden Grundes. Der Kausalgrundsatz besagt, dass alles, was einen Anfang hat, eine Ursache haben muss, bzw. dass jede Veränderung eine Ursache haben muss. Der Grundsatz des zureichenden Grundes besagt, dass alles einen Grund hat, und zwar entweder innerhalb oder außerhalb seiner selbst.
Wir sahen, dass die Grundsätze aus sich selbst heraus wahr sind. Anders ausgedrückt heißt dies, dass die Grundsätze an sich wahr sind/durch sich wahr sind/offensichtlich wahr sind/absolut wahr sind, dass den Grundsätzen die Wahrheit innewohnt, dass die Grundsätze evident sind. Dies ist auch das Kriterium der Wahrheit. Wir nennen es ab jetzt die Evidenz. Das Evidente ist das, was offensichtlich wahr ist. Wenn das menschliche Erkennen mit etwas Evidentem konfrontiert wird, ist die Folge im Erkennenden die Gewissheit. Die Gewissheit wiederum ist das Kriterium von Wissen. Durch die Evidenz wissen wir, dass etwas wahr ist, und durch die Gewissheit, welche auf die Evidenz im erkennenden Subjekt folgt, erkennen wir authentisches Wissen bzw. wissen wir von unserem Wissen. Das unmittelbar Evidente ist das, was aus sich selbst heraus wahr ist, und das mittelbar Evidente ist das, was durch das unmittelbar Evidente wahr ist. Durch die Evidenzen kommt in uns die Gewissheit und durch die Gewissheit in uns wissen wir von der Echtheit des durch die Erkenntnis gekommenen Wissens.
Jetzt könnte gefragt werden, woran denn erkannt werden kann, ob etwas ein unmittelbar evidenter Grundsatz ist. Es ist doch sicherlich möglich, dass ein solcher Grundsatz nicht als solcher erkannt wird, oder etwas für einen solchen gehalten wird, der keiner ist. Darauf ist Folgendes zu erwidern: Ein unmittelbar evidenter Grundsatz ist an seiner Evidenz, also an seiner Klarheit, an seinem unmittelbaren Einleuchten erkennbar. Wenn ein unmittelbar evidenter Grundsatz verstanden wird, erfährt man, dass es ein unmittelbar evidenter Grundsatz ist. Wenn ich mich auf einen Satz beziehe, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es ein unmittelbar evidenter Grundsatz ist, habe ich ihn – falls es tatsächlich ein unmittelbar evidenter Grundsatz ist – nicht verstanden. Falls ich einen Satz für einen unmittelbar evidenten Grundsatz halte, der kein unmittelbar evidenter Grundsatz ist, bin ich nicht aufgrund seiner unmittelbaren Evidenz von seiner Wahrheit überzeugt, da er diese nicht hat. Dieser Umstand ist mit folgendem Beispiel zu vergleichen. Wenn wir träumen, können wir davon überzeugt sein, wach zu sein. In Träumen können wir oft sogar nicht zum Wissen vordringen, dass wir nur träumen. Wenn wir allerdings wach sind, erfahren wir, wach zu sein. Durch die Erfahrung des Wachseins haben wir die Gewissheit, wach zu sein und nicht zu träumen. Hier eine Gegenüberstellung: Wenn wir einen unmittelbar evidenten Grundsatz erkennen, wissen wir durch seine unmittelbare Evidenz, die wir erfahren, dass es ein unmittelbar evidenter Grundsatz ist. Wenn wir in wachem Bewusstseinszustand sind, wissen wir durch das Erfahren des wachen Bewusstseinszustandes, dass wir uns in wachem Bewusstseinszustand befinden. Wenn wir einen nicht unmittelbar evidenten Grundsatz für einen unmittelbar evidenten Grundsatz halten, ist der Grund für unsere Überzeugung nicht der, dass wir unmittelbare Evidenz erführen. Wenn wir im Traum davon überzeugt sind, uns in wachem Bewusstseinszustand zu befinden, ist der Grund für unsere Überzeugung nicht der, dass wir unseren wachen Bewusstseinszustand erführen. In beiden Fällen ist es so, dass wir in der Erfahrung die Gewissheit erhalten. Wir können, wie gesehen, jedoch auch irrtümlich davon überzeugt sein, dass wir etwas erfahren, ohne es wirklich zu erfahren.
Rückblick
Evidenz gibt es nicht nur bezogen auf Grundsätze (unmittelbare Evidenz) und Beweisführungen (mittelbare Evidenz). Durch unsere Erfahrungen wissen wir, dass es noch weitere Bereiche des Erkennens gibt, in denen Evidenz und Gewissheit enthalten sind. Auf diese wollen wir im weiteren Verlauf noch eingehen. Doch bevor wir dies tun, versuchen wir kurz, Teile des Bisherigen zu überblicken und teilweise aus erweiterten Hinsichten kompakt darzustellen. Wir begannen damit, festzustellen, dass es Wahrheit, Erkennen und Wissen gibt. Bei der Feststellung haben Beispiele gedient, die veranschaulicht haben, dass unsere alltäglichen Handlungen – und auch der Umstand, dass dieser Artikel gelesen werden kann – es als wahr voraussetzen, dass es Wahrheit gibt und Erkennen und Wissen real sind. Die Realität von Wahrheit, Erkennen und Wissen wiederum fordert ein Weltbild (einen metaphysischen Standpunkt), welches Wahrheit, Erkennen und Wissen einschließt. In der Erklärung der Wirklichkeit, müssen also auch Wahrheit, Erkennen und Wissen erklärt werden können. Ein Standpunkt, der Wahrheit, Erkennen und Wissen leugnet, kann nicht wahr sein, er untergräbt sich vielmehr selbst. Darauf aufbauend haben wir uns in einen Bereich des Erkennens hineingewagt, um uns den Kriterien für Wahrheit und Wissen zu nähern. Während unseres Vorgehens haben wir Verschiedenes als wahr vorausgesetzt. Dazu gehört z.B., dass erstens ganz allgemein die Bedeutung der verwendeten Wörter bekannt, zweitens der Grundsatz vom Nicht-Widerspruch gültig und drittens richtiges Denken real sind. Diese Punkte als nicht-wahr vorauszusetzen, ist nicht möglich. In jeder menschlichen Interaktion müssen die Punkte notwendig vorausgesetzt sein, da ansonsten keine Interaktion möglich ist – die Punkte zwei und drei müssen sogar bei jedem Denk-Akt vorausgesetzt sein, da Denken sonst nicht möglich wäre.
In dem Bereich des Erkennens, in den wir uns begaben, setzten wir ebenfalls – anhand grundlegender Erfahrungen – Wahrheit, Erkennen und Wissen voraus. Wenn Wahrheit real ist und wir Wahrheit erkennen können, muss es etwas geben, wodurch wir Wahrheit erkennen können. Dasjenige, wodurch wir Wahrheit erkennen können, nennen wir „Klarheit“, „Offenbarsein“, „Grund des Einleuchtens am Erkannten“ oder „Evidenz“. Die Evidenz kann unmittelbar oder mittelbar sein, je nachdem, ob die Wahrheit aus sich selbst heraus wahr ist, oder durch etwas anderes wahr ist. Die Evidenz ist es, welche uns die Wahrheit versichert. Sie ist das Kriterium der Wahrheit. Die Gewissheit ist es, welche uns Wissen versichert. Sie ist das Kriterium des Wissens. Die Evidenz gehört zur denkunabhängigen, objektiven Wirklichkeit. Die Evidenz ist zwar ausgerichtet auf erkennende Subjekte, doch sie ist nicht Teil des Subjekts, sondern sie wird lediglich vom Subjekt erkannt bzw. erfahren. Das Erfahren der Evidenz ist allerdings keine Erkenntnis, die zur Erkenntnis der Wirklichkeit hinzukommt. Vielmehr ist in der Erkenntnis der Wirklichkeit die Erfahrung der Evidenz der Wirklichkeit eingeschlossen. Auf die erfahrene Evidenz folgt im Subjekt die Gewissheit. Die Gewissheit ist – im Gegensatz zur Evidenz – nichts vom Subjekt Unabhängiges, sondern Teil des Subjekts. Die Gewissheit garantiert dem Subjekt – durch die Evidenz – die Wahrhaftigkeit des Wissens über die erkannte Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wiederum versichert dem Subjekt durch die Evidenz die Wahrheit. Die Reihenfolge sieht also – vereinfacht ausgedrückt – wie folgt aus: Das Subjekt erkennt die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist mittelbar oder unmittelbar evident, aufgrund dessen im Subjekt die Gewissheit folgt. Durch die Gewissheit im Subjekt, ist dem Subjekt das Wissen versichert und durch die Evidenz, ist dem Subjekt die Wahrheit versichert. Im Vollzug fällt das Erkennen der Wirklichkeit mit der Erfahrung der Evidenz und der Gewissheit zusammen. Die Reihenfolge kann auch vom anderen Ende begonnen werden: Es gibt die objektive Wirklichkeit. Die objektive Wirklichkeit ist entweder mittelbar oder unmittelbar evident. Wenn die objektive Wirklichkeit vom Subjekt erkannt wird, folgt im erkennenden Subjekt, wegen der Evidenz der erkannten Wirklichkeit, die Gewissheit.
Erkennen
Die Evidenz ist, wie wir sahen, das Kriterium von Wahrheit bzw. wahrem Erkennen. Aufgrund dessen muss es also so viele Arten der Evidenz geben, wie es Arten des Erkennens gibt. Da für uns Menschen, wie wir durch alltägliche Erfahrungen wissen, die Wirklichkeit über Grundsätze und Beweisführungen hinaus zugänglich ist, muss es demnach weitere Arten von Evidenzen geben. Wir wissen z.B., dass Weiß heller ist als Schwarz, dass das Ganze größer ist als eines seiner Teile, dass zwei plus zwei gleich vier ist, dass wir täglich atmen müssen, um am Leben zu bleiben, was wir bis zu diesem Augenblick die letzten Sekunden über gemacht haben, oder dass wir Schmerzen empfinden würden, wenn aktuell unsere Hand brennen würde. Die Beispiele bezeugen, dass unser Wissen von Wahrheiten die Bereiche der Grundsätze und Beweisführungen übersteigt. Wollen wir nun wissen, welche Arten von Evidenzen es gibt, müssen wir uns den Arten des Erkennens zuwenden. Bevor wir zu den jeweiligen Arten vordringen, nehmen wir uns das Erkennen im Allgemeinen vor. Dafür nutzen wir ein paar der Beispiele über das, von dem wir wissen, dass es wahr ist: Weiß ist heller als Schwarz und das Ganze ist größer als eines seiner Teile. Zur Wiederholung: Wahrheit war die Übereinstimmung zwischen Erkennen und Wirklichkeit. Wenn es nun wahr sein soll, dass Weiß heller ist als Schwarz und dass das Ganze größer ist als eines seiner Teile, müssen die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sein. Erstens, dass der Inhalt der Übereinstimmung – also, dass Weiß heller ist als Schwarz und dass das Ganze größer ist als eines seiner Teile – Teil der objektiven Wirklichkeit ist und zweitens, dass der Inhalt der Übereinstimmung im Bewusstsein des Erkennenden ist. Im Bewusstsein des Erkennenden kann der wahre Inhalt nur sein, wenn er vorher Teil der objektiven Wirklichkeit ist. Der Inhalt der Übereinstimmung zwischen Erkennen und Wirklichkeit muss natürlich in einer anderen Weise im Bewusstsein des Erkennenden sein, als er Teil der Wirklichkeit ist. Die Weise des Im-Bewusstsein-Seins ist abhängig von der Art des Erkennens. Doch unabhängig von der Weise des Im-Bewusstseins-Seins des Inhalts der Übereinstimmung, muss der Inhalt derselbe sein im Bewusstsein des Erkennenden und in der erkannten Wirklichkeit, wenn es Wahrheit geben soll. Da es Wahrheit gibt – ich verweise auf obige Beispiele –, muss es also stimmen, dass der Inhalt derselbe ist.
Die Frage, wie etwas auf verschiedene Weise mehrfach existieren kann, schneidet andere wissenschaftliche Bereiche an als die Art des Umgangs mit den bisherigen Inhalten. Sie schneidet die Bereiche der Metaphysik und Naturphilosophie. Im Folgenden muss zur Beantwortung der Frage also auf Inhalte aus diesen Bereichen eingegangen werden. Wir versuchen hier diese allerdings kurz zu halten. Im Artikel „Was ist der Mensch?“ wird etwas tiefer auf sie eingegangen.
Die Wirklichkeit ist voll von Dingen und Lebewesen. Die Dinge und Lebewesen haben Eigenschaften und können verschiedentlich zueinander in Beziehung stehen. Das Weiße und das Schwarze sind z.B. Eigenschaften von Dingen und Lebewesen. Die Dinge und Lebewesen mit ihren Eigenschaften und Beziehungen sind es auch, welche die Wirklichkeit ergeben und daher die Gegenstände des Erkennens sind. Jetzt sagt uns unsere Erfahrung, dass es Dinge und Lebewesen gibt, die teilweise veränderlich und teilweise unveränderlich sind. Ein bestimmter Baum z.B. verändert sich in seiner Größe und Gestalt, bleibt jedoch immer dieser bestimmte Baum. Für beides gibt es einen Grund bzw. ein Prinzip in den Dingen und Lebewesen. Das Prinzip für die Veränderlichkeit nennen wir Materie und das Prinzip für die Unveränderlichkeit nennen wir Form. Dann sagt uns unsere Erfahrung, dass es Dinge und Lebewesen gibt, die jeweils eine Einheit sind, aber aus vielen Teilen bestehen. Ein Baum z.B. ist zwar ein Baum, besteht jedoch aus vielen Molekülen. Auch hier gibt es für beide einen Grund bzw. ein Prinzip. Das Prinzip für die Einheit von Dingen und Lebewesen ist dasselbe, wie das für die Unveränderlichkeit, nämlich die Form. Das Prinzip für die Vielheit von Dingen und Lebewesen ist dasselbe, wie das für die Veränderlichkeit, nämlich die Materie. Materie meint hier etwas anderes als die Naturwissenschaften, da die stofflichen Gegenstände der Naturwissenschaften immer aus Materie und Form zusammengesetzt sind. Form und Materie ergeben gemeinsam die Dinge und Lebewesen. Anders ausgedrückt: Form und Materie zusammen sind die Substanzen, welche die Dinge und Lebewesen sind (mehr zu diesen Inhalten siehe „Was ist der Mensch?“). Eine Substanz ist ein Ding oder Lebewesen, wie es in sich ist, z.B. ein Baum, ein Hund oder ein Stein. Zu den Substanzen kommen die Akzidenzien hinzu. Ein Akzidenz ist etwas, das einer Substanz zukommt, z.B. die Farbe Grün, die Entfernung zum nächsten Stein oder das genaue Gewicht. Das, was etwas ist, wird Substanz genannt, und das, was (Substanzen) zukommt, wird Akzidenz genannt. Die Substanz, sahen wir, besteht aus Form und Materie. Die Form ist dasjenige, was die Substanz – in dem, was sie ist – bestimmt. Die Form ist das Wesen der Substanz. Wir nennen sie ab jetzt substanzielle Form. Jetzt ist es jedoch noch so, dass die Substanz in gewisser Weise auch durch die Akzidenzien bestimmt ist. Durch die Akzidenzien ist die Substanz in dem, was der Substanz zukommt – nicht in dem, was die Substanz ist – bestimmt. Darüber hinaus ist ein einzelnes Akzidenz immer ein bestimmtes Akzidenz. Da alles Bestimmte ein Wesen bzw. eine Form hat oder ist, kann auch von akzidentellen Formen gesprochen werden. Alles Bestimmte kann zurückgeführt werden auf das Wesen, was ein Ding oder Lebewesen in sich ist – substanzielle Form –, oder was einem Ding oder Lebewesen nur zukommt – akzidentelle Form – bzw. auf Kombinationen von beiden. Das Unveränderlichkeitsprinzip und Einheitsprinzip von Substanzen ist nur die substanzielle Form, nicht die akzidentelle.
Zurück zur eigentlichen Frage: Wie kann es sein, dass etwas – wenn auch auf verschiedene Weise – mehrfach existiert? Für die Antwort darauf gibt es nur eine Möglichkeit. In der Wirklichkeit bzw. objektiv, existieren die Dinge und Lebewesen als Substanz mit ihren Akzidenzien. In unserem Bewusstsein existieren nur die Formen der erkannten Dinge und Lebewesen. Natürlich nicht die vollständigen Formen, sondern nur insoweit, wie die Dinge und Lebewesen erkannt sind, und zwar als erkannt. Die Sinne erkennen die akzidentellen Formen und der Verstand erkennt die substanziellen Formen – dazu später mehr. Die Materie der Dinge und Lebewesen wird durch die Erkenntnis nicht Teil des Bewusstseins des Erkennenden. Die Formen sind in der Wirklichkeit verbunden mit Materie – bzw. vereint mit Materie – und in unserem Bewusstsein losgelöst von Materie. Darüber hinaus existieren die substanziellen Formen nur in universaler Weise in unserem Bewusstsein, während sie in den Dingen und Lebewesen nur in vereinzelter Weise existieren. Beispiel: In einer Eiche existiert vereinzelt die substanzielle Form der Eiche. In unserem Bewusstsein existiert nach dem Erkennen einer Eiche die substanzielle Form der Eiche auf allgemeine Weise, da zu der substanziellen Form der Eiche in unserem Bewusstsein jede in der Wirklichkeit vereinzelte Eiche gerechnet werden kann.
Alle Formen existieren nur vereinzelt in (dann sind sie substanziell) oder an (dann sind sie akzidentell) den Dingen und Lebewesen. Ob akzidentelle Formen in unserem Bewusstsein nur vereinzelt existieren können und welches Erkenntnisvermögen welche Formen zu erkennen vermag, wird im weiteren Verlauf geklärt. Die genaue Antwort auf die Frage, wie etwas mehrfach existieren kann, lautet: durch das Erkennen.
Sinneserkenntnis
Nachdem wir uns dem Erkennen im Allgemeinen zuwandten, können wir nun zu den konkreten Arten des Erkennens fortschreiten und somit auch zu den Weisen des Im-Bewusstsein-Seins dessen, was erkannt wird, sowie zu weiteren Arten der Evidenz. Unsere Erfahrungen zeugen davon, dass wir mit unseren Sinnen die Wirklichkeit erfassen können. Dies ist so klar, dass eine Beispielauflistung nicht nötig sein sollte. Trotzdem sei Folgendes angemerkt: Selbst diejenigen, die infrage stellen, dass wir mit unseren Sinnen die objektive Wirklichkeit erfassen, würden nicht so weit gehen, diese Behauptung durch ihr Handeln zu begründen, indem sie z.B. ihre Hand ins Feuer halten, vor einen fahrenden Zug springen oder sich von einem Hochhaus fallen ließen.
Wie funktioniert das Erkennen durch die Sinne? Es gibt zwei Arten von Sinnen. Die eine Art von Sinnen vermag es nur, durch ein Medium (einen Vermittler) ihr jeweiliges Objekt zu erkennen. Dazu zählt z.B. der Sinn des Sehens. Das Medium des Sehens ist Licht. Dann gibt es Sinne, die direkt Kontakt zum Gegenstand des Erkennens aufbauen. Dazu zählt der Tastsinn. Voraussetzung für sinnliches Erkennen sind zahlreiche sensorielle und neuronale Vorgänge. Auf diese Vorgänge wird in den Naturwissenschaften ausführlich eingegangen. Hier werden die Voraussetzungen nicht weiter thematisiert.
Durch den Akt sinnlichen Erkennens erhält der Erkennende den Gegenstand des Erkennens – das Erkannte –, von Materie losgelöst und dem jeweiligen Sinn entsprechend, im Bewusstsein. Durch den Gegenstand im Bewusstsein des Erkennenden, erkennt der Erkennende, dank des jeweiligen Sinns, den Gegenstand in der Wirklichkeit außerhalb seines Bewusstseins. Der Gegenstand der Sinne in unserem Bewusstsein ist also nicht das, was wir sinnlich erkennen, sondern das, wodurch wir sinnlich erkennen. Beispiel: In der Wirklichkeit steht ein Baum. Vor dem Baum steht die Baha, die auf den Baum sieht. Die Baha sieht mit dem Sinn des Sehens den Baum, aufgrund dessen sie in ihrem Bewusstsein ein Bild des Baumes hat. Durch das Bild in ihrem Bewusstsein, erkennt die Baha den Baum, der sich außerhalb ihres Bewusstseins, in der Wirklichkeit befindet. Das Bild in ihrem Bewusstsein ist nicht das, was sie durch den Sinn des Sehens erkennt, sondern das, wodurch sie den Baum erkennt.
Dieses Bild, bzw. Objekt im Bewusstsein des Erkennenden ist das, was wir im Abschnitt zuvor als „akzidentelle Form“ bezeichnet haben. Durch die akzidentelle Form im Bewusstsein des Erkennenden, wird die Wirklichkeit erkannt. Der Grund dafür ist, dass die akzidentelle Form – wie im Abschnitt zuvor dargelegt – dieselbe im Bewusstsein ist, wie im Objekt des Erkennens, welches sich außerhalb des Bewusstseins, in der Wirklichkeit befindet. Die Seinsweise der akzidentellen Form ist im Bewusstsein losgelöst von Materie und in der Wirklichkeit vereint mit Materie. Es ist allerdings dieselbe. Jetzt ist im Abschnitt zuvor eine Unterscheidung vorgenommen worden, zwischen den akzidentellen Formen und den substanziellen Formen. Hier wird nochmals kurz darauf eingegangen. Erstens: Die akzidentellen Formen sind das, was einem Ding oder Lebewesen unwesentlich und äußerlich ist, wie z.B. die aktuelle Farbe oder Lage. Die substanziellen Formen sind das, was einem Ding oder Lebewesen wesentlich und innerlich ist – sie sind das Wesen, das So-Sein eines Dinges oder Lebewesens; sie sind das, was das Ding oder Lebewesen ist. Zweitens: Die Dinge und Lebewesen haben jeweils nur eine substanzielle Form, jedoch viele akzidentelle Formen – zu den akzidentellen Formen zählen z.B. die Beschaffenheiten, die Größe und die Relationen. Drittens: Wenn sich die akzidentellen Formen an einem Ding oder Lebewesen ändern, bleibt das Ding oder Lebewesen dasselbe (wenn ein grauer Stein mit roter Farbe besprüht wird, oder die Baha sich von ihrem Stuhl erhebt, bleiben der Stein und die Baha dieselben, wie zuvor). Wenn sich die substanzielle Form an einem Ding oder Lebewesen ändert, bleibt das Ding oder Lebewesen nicht dasselbe (wenn der gegessene Salat verdaut wurde oder das Stück Holz abgebrannt ist, sind sie nicht mehr dasselbe wie zuvor).
Erfassen die Sinne nur die akzidentellen Formen? Da alle Gegenstände der Sinne inhaltlich nur mit dem übereinstimmen, wie die akzidentellen Formen bestimmt wurden, muss die Frage bejaht werden. Die Sinne erfassen nur die akzidentellen Formen. Darüber hinaus sind die akzidentellen Formen im Bewusstsein genauso vereinzelt, wie an den Dingen und Lebewesen. Der genaue Braunton am Holz des Stammes eines Baumes, ist im Bewusstsein genau dieser eine Braunton. Er ist nicht das Braunsein oder die allgemeine Farbe Braun, sondern dieser bestimmte Braunton. Die Weise des Im-Bewusstsein-Seins akzidenteller Formen unterscheidet sich also von den akzidentellen Formen an den Dingen und Lebewesen nur insofern, als sie von Materie losgelöst sind.
Kommen wir nun zur Frage nach der Evidenz der Sinneserkenntnis. Wir sahen bereits, dass Evidenzen in mittelbare und unmittelbare aufgeteilt werden. Unmittelbar evident war etwas Erkanntes, wenn es aus sich selbst heraus evident ist. Mittelbar evident war etwas Erkanntes, wenn es durch etwas anderes Erkanntes evident ist. Wie steht es nun mit der Sinneserkenntnis? Da wir durch Erfahrung von der Authentizität der Sinneserkenntnis wissen, muss der Sinneserkenntnis Evidenz zukommen. Da wir im Akt sinnlichen Erkennens den Gegenstand sinnlichen Erkennens unmittelbar erkennen – die Sinneserkenntnis ist durch keine andere Erkenntnis vermittelt –, ist die mit der sinnlichen Erkenntnis verbundene Evidenz selbst auch unmittelbar. Wenn wir z.B. eine Landschaft erblicken, wird diese unmittelbar erkannt und nicht dadurch, dass die Landschaft auf eine oder mehrere andere Erkenntnisse zurückgeführt wird, sodass daraus erst die Landschaft erkannt wird. Mit der Sinneserkenntnis verbunden ist also die Erfahrung unmittelbarer Evidenz.
Was ist dann mit sogenannten Sinnestäuschungen? Woher wissen wir, dass wir in unserer Sinneserkenntnis nicht getäuscht werden? Woher wissen wir, ob etwas eine evidente Sinneserkenntnis und keine Täuschung in unserem Bewusstsein ist? Das, was allgemein unter Sinnestäuschungen verstanden wird, lässt sich auf drei Arten von Phänomenen zurückführen. Erstens, dass wir in unserem Bewusstsein Eindrücke von Sinnesgegenständen haben, die gar nicht da sind und somit sinnlich nicht erkannt sein können. Zweitens, dass in der Wirklichkeit wahrnehmbare Sinnesgegenstände sind, die sinnlich nicht erkannt werden. Drittens, dass sinnlich Erkanntes falsch interpretiert wird. Das dritte Phänomen ist selbst keine Sinnestäuschung, sondern eine Fehlinterpretation dessen, was wirklichkeitsgemäß sinnlich wahrgenommen wird. Es kann z.B. eines von zwei gleich großen Objekten mehr oder weniger groß als das andere interpretiert werden, aufgrund des unterschiedlichen Abstandes beider Objekte zum Sehenden. Ein weiteres Beispiel sind die durch die Erwartungshaltung begründeten scheinbaren Wahrnehmungen. Da dieses Phänomen jedoch keine eigentliche Sinnestäuschung ist, wird hier nicht weiter darauf eingegangen. Beim zweiten Phänomen wird die Wirklichkeit nicht falsch wahrgenommen, sondern nur unvollständig. Das sinnlich Wahrgenommene beim zweiten Phänomen ist also wirklichkeitsgemäß und nicht falsch. Da uns hier jedoch das interessiert, was sich falscherweise an Sinnesgegenständen als gegenwärtig wahrgenommen in unserem Bewusstsein befindet, wird auch auf dieses zweite Phänomen nicht weiter eingegangen. Wir wenden uns hier also nur dem ersten Phänomen zu und nennen es „positive Sinnestäuschungen“. Dabei soll zunächst einmal auf Folgendes hingewiesen sein: Die Gegenstände sinnlichen Erkennens, können erstmalig nicht anders in unser Bewusstsein kommen als durch sinnliches Erkennen. Jemand, der z.B. noch nie Farben gesehen oder Töne gehört hat, kann in seinem Bewusstsein keine Farb- oder Toneindrücke haben. Dies hat – zusammen mit unseren grundlegenden Erfahrungen mit sinnlicher Erkenntnis – zur Folge, dass eine sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit existiert.
Positive Sinnestäuschungen sind in drei Arten aufteilbar, nämlich in die natürlichen, die abnormalen und die künstlichen Sinnestäuschungen. Die natürlichen Sinnestäuschungen treten bei gesunden Menschen unter normalen Umständen auf. Beispiele hierfür sind Lichtbrechungen (Fata Morgana, Stock-im-Wasser), Autoräder, die sich in so hoher Geschwindigkeit drehen, dass sie bewegungslos erscheinen, oder aus kleinen Teilen bestehende Gegenstände, die zusammenhängend bzw. einheitlich erscheinen. Abnormale Sinnestäuschungen sind Sinnestäuschungen, die krankheits- und schadensbedingt auftreten. Beispiele hierfür sind Halluzinationen durch Schizophrenie und Fieber, Tinnitus oder Phantomschmerzen. Künstliche Sinnestäuschungen sind diejenigen, welche durch künstliche (einschließlich technische) Mittel bzw. Eingriffe herbeigeführt werden. Beispiele hierfür sind Gehirnbeeinflussung durch technische Mittel (neurostimulierte Halluzinationen), Hypnose oder Halluzinationen durch Drogen (psychoaktive Substanzen).
Allgemein gilt: Wenn wir wissen wollen, ob das, was wir an sinnlichen Gegenständen in unserem Bewusstsein haben, durch sinnliche Erkenntnis der Wirklichkeit in unserem Bewusstsein ist, wissen wir dies in der Erfahrung der unmittelbaren Evidenz sinnlich erkennbarer Gegenstände der Wirklichkeit. Wenn wir sinnlich erkennen, erfahren wir in der sinnlichen Erkenntnis die unmittelbare Evidenz der sinnlich erkennbaren Wirklichkeit. Die Erfahrung unmittelbarer Evidenz bezeugt die Echtheit der Wirklichkeit. In der Erfahrung unmittelbarer Evidenz folgt auch hier, im Bereich sinnlicher Erkenntnis, die Gewissheit im Erkennenden, über die Echtheit des Erkannten. Bei Sinnestäuschungen kann das Subjekt zwar auch von der inhaltlichen Echtheit der Täuschung überzeugt sein, doch die Überzeugung kommt nicht durch Evidenz oder Gewissheit. Die Gewissheit im Subjekt ist verschieden, zum Für-Wahr-Halten einer Täuschung. Die Erfahrung von Gewissheit hat eine andere Qualität als die Erfahrung des Für-Wahr-Haltens einer Täuschung. Beides fühlt sich im Subjekt anders an. Beide Zustände sind in ihrem Erleben voneinander unterscheidbar, was jedoch nicht anhand allgemeiner Kriterien festmachbar ist. Genauso wenig gibt es allgemeine Kriterien dafür, wie sich der Unterschied im Erleben zwischen den Farben Blau und Grün anfühlt. Das subjektive Erleben ist bei jedem anders. Wollte man allgemeingültige Kriterien darüber aufstellen, wie subjektive Zustände erlebt werden, würde man dem Subjektiven die Subjektivität entziehen, die Ich-Perspektive auf die Er-/Sie-/Es-Perspektive reduzieren.
Bei der Evidenz sinnlicher Erkenntnis gibt es jedoch Voraussetzungen, die von Sinnestäuschungen in der Regel nicht vollständig erfüllt werden. Zu diesen Voraussetzungen zählt die Kohärenz bzw. Stimmigkeit sinnlicher Gegenstände eines einzelnen Sinnes im Bewusstsein. Wenn sich z.B. zwei verschiedene Gegenstände des Sehsinnes gegenseitig durchdringen, ist dies eine Sinnestäuschung, oder wenn ein Elefant plötzlich, wie eine Fliege fliegt, ist dies auch eine Sinnestäuschung. Des Weiteren gehört zu den Voraussetzungen die Kohärenz bzw. Stimmigkeit sinnlicher Gegenstände verschiedener Sinne. Wenn z.B. ein Stein singt, ist dies eine Sinnestäuschung.
Da wir in der Regel daran gewöhnt sind, diejenigen Sinnesgegenstände im Bewusstsein, die als gegenwärtig erkannt erscheinen, leichtfertig als authentisch erkannt anzunehmen, kann es sein, dass Sinnestäuschungen erst im Nachhinein oder sogar gar nicht aufgelöst werden. Doch auch hier gilt, was bereits oben dargelegt wurde. In der Erfahrung der Evidenz haben wir die Sicherheit der Echtheit der sinnlich erkannten Wirklichkeit, so wie wir im Wachzustand wissen, wach zu sein. So wie wir jedoch im Traum es irrtümlich für wahr halten können, wach zu sein, können wir irrtümlicherweise etwas sinnlich nicht Gegebenes für wahr halten. Der Grund des Für-Wahr-Haltens einer Täuschung ist jedoch niemals die Evidenz oder Gewissheit, da Täuschungen nicht evident sind – weder mittelbar noch unmittelbar – und Gewissheit immer Folge von erfahrener Evidenz ist.
Wie ist es dann möglich – so kann gefragt werden –, über sinnliche Evidenz Zweifel haben zu können? Schließlich gibt es vereinzelt Menschen, welche sinnliche Erkenntnis allgemein infrage stellen. Um dieses Phänomen zu verstehen, muss auf eine Unterscheidung verwiesen werden: Die Evidenz der Sinneserkenntnis befindet sich auf einer anderen Ebene im Menschen als der Zweifel über diese Evidenz. Die Evidenz sinnlicher Erkenntnis ist Teil sinnlicher Erkenntnis, während der Zweifel über die Evidenz sich auf der rationalen Ebene des Menschen abspielt. Das heißt, dass auch diejenigen Menschen, welche sinnliche Evidenz infrage stellen, diese trotzdem erfahren und zudem sogar der Erfahrung sinnlicher Evidenz entsprechend handeln. Jemand, der sinnliche Evidenz und somit Sinneserkenntnis infrage stellt, anerkennt die sinnlich erkennbare Wirklichkeit zumindest in seinem Handeln und steht somit im Widerspruch zu sich selbst. Ein die sinnlich erkennbare Wirklichkeit infrage Stellender würde z.B. keine Hochspannungsleitungen berühren oder aus schnell fahrenden Autos springen, da er wüsste, dass dies den Tod nach sich zöge, und dies setzt voraus, dass die Sinne die Situationen wirklichkeitsgemäß erfassen. Gründe für den Zweifel auf rationaler Ebene sind z.B. Fehlschlüsse wie der, dass durch das vereinzelt auftretende Phänomen von Sinnestäuschungen darauf geschlossen wird, dass die Sinne allgemein nicht die Wirklichkeit erkennen können. Ein weiterer Fehlschluss ist der, dass angenommen wird, dass Subjekte nur das erkennen können, was in ihrem Bewusstsein ist. Oben haben wir bereits gesehen, dass Subjekte durch das, was in ihrem Bewusstsein ist, die Wirklichkeit außerhalb ihres Bewusstseins erkennen können (dies ist übrigens auch Voraussetzung für die reflexive Erkenntnis dessen, was im Bewusstsein ist). Weitere Gründe für den allgemeinen Zweifel an sinnlicher Erkenntnis können ideologische Voreingenommenheit sein – also ein Mangel an Wissenschaftlichkeit – oder negative Beeinflussung durch andere.
Zurück zu den oben genannten Beispielen von Sinnestäuschungen. Sinnestäuschungen durch technische Mittel (neurostimulierte Halluzinationen) haben nicht die Evidenz einer Sinneserkenntnis zur Folge. Darüber hinaus stehen die Bewusstseinsgegenstände, die durch Beeinflussung des Gehirnes entstehen, in der Regel nicht im Einklang mit den Gegenständen der gleichen Art, die durch Sinneserkenntnis ins Bewusstsein gelangen. Wenn z.B. ein künstlich erzeugter visueller oder akustischer Reiz nicht sofort als solcher auffällt, reicht es oft aus, aufmerksam seine Position zu verändern, um ihn als solchen zu erkennen. Ähnliches gilt für Sinnestäuschungen durch psychoaktive Substanzen, Halluzinationen durch Schizophrenie oder Fieber, Tinnitus und Phantomschmerzen.
Die Sinnestäuschungen durch Hypnose sind vielfältig und abhängig vom Grad des Bewusstseinszustandes in der Hypnose. Je nach Grad der Tiefe entspricht die Sinnestäuschung in der Hypnose z.B. dem, was im Traum erlebt wird. Erwartungshaltung und Glauben spielen auch eine wichtige Rolle. Die Sinnestäuschung in der Hypnose kann aber auch nur dem entsprechen, was durch Fehlinterpretation angenommen wird. Jedenfalls ist sie im Erleben deutlich verschieden von authentischer Sinneserkenntnis und zieht keine Evidenz mit sich.
Wenn wir aus Molekülen bestehende Gegenstände betrachten und die Moleküle nicht einzeln sehen, sondern nur in ihrer Gesamtheit, und die Gegenstände aufgrund dessen einheitlich erscheinen, bezieht sich die sinnliche Evidenz der Erkenntnis dieser Gegenstände nicht darauf, dass sie zusammengesetzt oder nicht zusammengesetzt sind. Nur weil unsere Sehkraft nicht die Stärke hat, die einzelnen Moleküle zu erkennen, heißt dies nicht, dass das Wahrgenommene falsch ist. Es ist, insoweit es erkannt wird, wahr und insoweit auch evident. Da die Sehkraft nicht bis zu so kleinen Teilchen wie Molekülen reicht, dringt die Evidenz des Gesehenen auch nicht bis zu der Ebene dieser Teilchen vor. Die Gegenstände für nicht zusammengesetzt zu halten, wäre also eine Fehlinterpretation, nicht eine Sinnestäuschung. Mit sich schnell drehenden Autorädern verhält es sich vom Prinzip her genauso. Sie für bewegungslos zu halten, ist eine Fehlinterpretation. Unsere Sehkraft hat nicht die Stärke, den schnellen Bewegungen eines sich schnell drehenden Autorades zu folgen. Demnach geht auch die Evidenz des gesehenen Autorades nicht so weit. Die Evidenz des Erkannten kann nicht weitergehen, als das Erkenntnisvermögen stark oder gut ist.
Bei der Lichtbrechung verhält es sich etwas anders. Die Lichtbrechung ist ein physikalisches Phänomen, bei dem es um die Änderung der Ausbreitungsrichtung von Licht geht. Das Licht kann seine Ausbreitungsrichtung ändern, wenn es von einem Medium mit einer bestimmten Dichte, in ein Medium mit einer anderen Dichte übergeht, wie z.B. von Luft in Wasser oder Glas. Dadurch kann es vorkommen, dass ein Strohhalm, welcher in einem mit Wasser gefüllten Glas steht, an der Grenze zwischen Wasser und Luft geknickt erscheint oder in der Wüste wegen unterschiedlich dichten Luftschichten Wasserflächen erscheinen können, wo keine sind. Wenn wir wissen wollen, ob das gesehene Objekt lichtgebrochen ist, reicht es in vielen Fällen aus, zu schauen, ob sich das Objekt im selben Medium (z.B. Luft oder Wasser mit je gleichbleibender Dichte) befindet wie wir als Beobachter. Wenn es unsicher ist, ob wir als Beobachter uns im selben Dichtemedium befinden wie der Gegenstand des Sehens, können Lichtbrechungen daran erkannt werden, dass zumindest manche der folgenden Punkte auf sie zutreffen: flimmern, verschwommen, verzerrt, spiegelverkehrt, inkohärent mit dem übrigen Gesehenen, inkohärent mit den anderen Sinnen, abhängig von aktueller Position.
Im Folgenden wird auf zwei weitere Phänomene im Zusammenhang mit Sinnestäuschungen eingegangen. Es gibt verschiedene Formen dessen, was als Farbenblindheit bezeichnet wird. Es kann vorkommen, dass krankheitsbedingt nur Schwarz-Weiß gesehen wird, dass nur einzelne Farben nicht gesehen werden oder dass die Farben allgemein deutlich matter oder verschwommen wahrgenommen werden. Menschen mit solchen Krankheiten bzw. Defekten haben bei ihrer Sinneserkenntnis des Sehens auch unmittelbare Evidenz. Wie ist dies jedoch möglich, wenn das Gesehene im Bewusstsein des Erkennenden doch nicht genau dem entspricht, wie es außerhalb des Bewusstseins ist? In solchen Fällen ist es falsch zu sagen, dass das Gesehene im Bewusstsein nicht dem entspricht, wie es außerhalb des Bewusstseins in der Wirklichkeit ist. Es entspricht nämlich einander, und zwar dem Grad des Erkennens bzw. dem Grad des Sehen-Könnens nach. Menschen mit Einschränkungen, die als Farbenblindheit bezeichnet werden, sind in ihrer Fähigkeit, sehen zu können, eingeschränkt. Ihre Kraft zu sehen ist geringer als die Kraft des Sehens von – in dieser Hinsicht – normalen Menschen. Das, was solche Seheingeschränkte durchs Sehen in ihrem Bewusstsein haben, ist nicht etwas anderes, etwas, das es nicht gibt, oder etwas Verfälschtes, sondern genau das, was auch außerhalb ihres Bewusstseins in der Wirklichkeit ist, und zwar insoweit, wie sie die Fähigkeit haben, zu sehen. Die Eingeschränkten sehen zwar weniger, doch das Weniger was sie sehen, ist nicht falsch, sondern nur unvollständig. Wenn also jemand nur schwarz-weiß sieht, reicht die Kraft des Sehens nicht aus, Farben zu sehen. Sie ist allerdings immerhin so stark, die Wirklichkeit farblos sehen zu können. Die unmittelbare Evidenz des Sehens eines Eingeschränkten, der nur farblos sehen kann, ist also gegeben und berechtigt. Die Wirklichkeit ist in seinem Sehen nicht verfälscht, sondern echt, aber unvollständig. Genauso ist es bei Menschen, die einzelne Farben nicht sehen können, die Farben matter wahrnehmen oder nur verschwommen sehen.
Weiter kann Folgendes gefragt werden: In welcher Beziehung stehen die wahrgenommenen Farben eines Dinges oder Lebewesens zum Ding oder Lebewesen? Minimale Veränderungen der Oberflächenbeschaffenheit der Dinge und Lebewesen, sowie Veränderungen der Farbe des Lichtes (bzw. der Wellenlänge des Lichtes), welches die Dinge und Lebewesen bescheint und Voraussetzung des Sehens ist, lassen die Dinge und Lebewesen andersfarbig erscheinen. Darin liegt keine Schwierigkeit. Die Farbe ist eine akzidentelle Form eines Dinges oder Lebewesens. Akzidentelle Formen können sich schnell und leicht verändern und sind den Dingen und Lebewesen äußerlich. Somit auch die Farben von etwas. Wenn z.B. über die Dauer des Aufenthalts in einem Raum mit ausschließlich rotem Licht, die Hautfarbe rot erscheint, ist die Hautfarbe über die Dauer des Aufenthalts in diesem Raum – wegen des roten Lichtes – rot. Sobald der Raum verlassen wird, ist die Farbe der Haut wieder die normale Farbe bzw. diejenige Farbe, die durch Sonnenlicht oder Weißlicht entsteht.
Zum Ende dieses Abschnitts, wollen wir kurz rückblickend auf das eigentliche Ziel seiner Inhalte eingehen. In diesem Abschnitt ging es um die Sinneserkenntnis. Genauer gesagt darum, dass Sinneserkenntnis echt ist, also dass wir Menschen mit dem, was wir als Sinne bezeichnen, etwas zu erkennen vermögen, das von uns verschieden ist: eine bewusstseinsunabhängige Außenwelt, eine objektive Wirklichkeit. Als Ausgangspunkt für die Darlegungen dieses Abschnitts, dienten alltägliche menschliche Handlungen, in denen die Echtheit einer bewusstseinsunabhängigen Außenwelt, einer objektiven Wirklichkeit, vorausgesetzt ist. Die Voraussetzung dieser menschlichen Handlungen – die objektive Außenwelt – ist von diesem Abschnitt auch als Voraussetzung übernommen worden. Somit hat dieser Abschnitt keinen Versuch unternommen, die objektive, sinnlich erfassbare Außenwelt zu beweisen. Er hat vielmehr zu zeigen versucht, dass wir Menschen in unserem Handeln es als selbstverständlich voraussetzen, dass es eine sinnlich erfahrbare Außenwelt gibt, dass das menschliche Handeln keine andere Möglichkeit zulässt, als die Wirklichkeit einer sinnlich erfahrbaren Außenwelt und dass wir Menschen dies wissen. Mehr noch, durch diesen Abschnitt wurde dargelegt, dass wir Menschen mit Sicherheit wissen, dass es eine sinnlich erfahrbare Außenwelt gibt. Der Grund dafür, dass wir Menschen wissen, dass es eine solche Außenwelt gibt, kommt jedoch nicht durch Beweisführungen, Schlussfolgerungen oder Ähnliches. Wahrheiten, die durch Beweisführungen, Schlussfolgerungen und Ähnliches gewonnen werden, sind – wie wir weiter oben sahen – immer mittelbar. Sie stützen sich auf Wahrheiten, die unmittelbar eingesehen werden. Die Wahrheit der Echtheit der Sinneserkenntnis ist so etwas unmittelbar Einsehbares. Durch unsere Sinneserkenntnis erfahren wir unmittelbar die Echtheit sowohl der Sinneserkenntnis als auch der Außenwelt. Es ist also nicht nötig, durch Beweisführungen oder Argumentationen die Echtheit der Sinneserkenntnis und Außenwelt nachzuweisen, da das unmittelbar Erkannte immer sicherer gewusst ist als das mittelbar Erkannte. Dass der Inhalt dieses Rückblicks wahr ist, davon zeugen unsere fundamentalen Erfahrungen und unsere, auf die Erfahrungen aufbauenden, alltäglichen Handlungen, von denen oben einige Beispiele gebracht wurden. Diese fundamentalen Erfahrungen und alltäglichen Handlungen lassen als einzigen Schluss zu, dass es sich so verhält, wie in diesem Rückblick dargelegt.
Begriffe
Bevor wir auf die Tätigkeitsarten des Verstandes und seine Evidenzen eingehen, wenden wir uns den Begriffen zu. Die Ausdrücke „Verstand“ und „Vernunft“ werden in diesem Artikel übrigens nicht voneinander unterschieden. Die Begriffe sind für uns insofern von Bedeutung, als sie dasjenige sind, was vom Verstand gebildet wird und wodurch der Verstand die Wirklichkeit erkennt. Um den Verstand mit seinen Evidenzen verstehen zu können, muss also auch verstanden sein, was Begriffe sind.
Das vom Verstand Gebildete sind die Begriffe. Begriffe sind Einheiten im Bewusstsein, welche die allgemeinen Wesensmerkmale von etwas enthalten. Sie werden dem gegenübergestellt, was durch die Sinne im Bewusstsein gebildet wird. Das von den Sinnen Gebildete sind nämlich – wie wir bereits sahen – konkrete äußere Merkmale von etwas.
Erstes Beispiel: Vor uns befindet sich ein Pudu (die Pudus sind die kleinste Hirschart der Welt).
Durch die Sinne wird Folgendes im Bewusstsein vom Pudu gebildet oder aufgenommen: Die rotbraune Farbe des Fells, die Gestalt und Größe des Körpers, die momentane Bewegung und der typischen Wildgeruch.
Durch den Verstand wird im Bewusstsein der Begriff „Pudu“ gebildet oder vergegenwärtigt, der folgende Merkmale umfasst: Er ist ein paarhufiges Säugetier mit Fell, welcher zur kleinsten Art der Hirsche zählt. Ausgewachsene Pudus erreichen eine Schulterhöhe von etwa 25–45 cm und ein Gewicht von etwa 3–13,5 kg. Der Begriff „Pudu“ im Bewusstsein kann sowohl weitere als auch weniger Merkmale umfassen. Wesentlich für einen Begriff ist, dass er – wenn möglich – auf eine Gattung zurückgeführt und von anderen Arten derselben Gattung unterschieden wird. Beim Begriff „Pudu“ ist die Gattung „Hirsch“ und der Unterschied zu anderen Hirscharten ist der, dass der Pudu die kleinste Hirschart ist.
Das durch die Sinne im Bewusstsein Gebildete vom Pudu ist etwas Konkretes, Einmaliges und Äußeres. Die rotbraune Farbe des Fells gehört zu diesem einen Pudu, welcher sich vor uns befindet und nur zu ihm. Andere Pudus können scheinbar die gleiche Farbe haben, aber nicht dieselbe, da sie andere Pudus sind. Gleiches gilt für den Geruch, die Bewegung und die Gestalt unseres Pudus. Diese sind nur unserem Pudu zugehörig, auch wenn diese konkreten Eigenschaften bei anderen Pudus gleich erscheinen mögen. Darüber hinaus sind diese konkreten Merkmale unwesentlich, da sie auch anders sein können, während unser Pudu weiterhin unser Pudu bleibt.
Der durch den Verstand im Bewusstsein gebildete oder vergegenwärtigte Begriff „Pudu“ ist allgemein und erfasst das Wesen des Pudus. Die aufgelisteten Merkmale sind nicht nur auf einen bestimmten Pudu bezogen, sondern auf alle. Es gibt keinen Pudu, welcher kein Säugetier, Hirsch oder Paarhufer ist. Insofern ist der Begriff „Pudu“ allgemein. Darüber hinaus ist es dem Pudu wesentlich, ein Säugetier, Hirsch und Paarhufer und im Vergleich zu allen anderen Hirscharten am kleinsten und leichtesten zu sein. Würden sich diese Merkmale verändern, wäre unser Pudu kein Pudu mehr.
Zweites Beispiel: Vor uns befindet sich ein Stein.
Durch die Sinne wird Folgendes im Bewusstsein vom Stein gebildet bzw. aufgenommen: Seine graue Farbe, sein genauer Umriss, seine bestimmte Größe und Gewicht. Diese Eigenschaften sind alle konkret, da sie sich nur auf den Stein beziehen, der sich vor uns befindet und von den Sinnen aktuell wahrgenommen wird. Darüber hinaus sind diese Eigenschaften unwesentlich, da die auch anders sein können, ohne dass der Stein aufhört, ein Stein zu sein. Der Stein kann z.B. auch größer, kleiner, leichter oder schwerer sein und ist trotzdem noch ein Stein.
Durch den Verstand wird im Bewusstsein der Begriff „Stein“ gebildet oder vergegenwärtigt, der folgende Merkmale umfasst: Der Stein ist ein natürlicherweise in der Erde vorkommender harter und fester Stoff. Er unterscheidet sich von anderen natürlicherweise in der Erde vorkommenden harten und festen Stoffen, wie dem Metall, durch seine chemische Zusammensetzung, atomare Struktur und physikalischen Eigenschaften. Diese Merkmale sind allgemein, da sie auf alle Steine zutreffen. Darüber hinaus sind diese Merkmale wesentlich, da sie nicht anders sein können, ohne dass sich das Wesen des Steines verändert.
Drittes Beispiel: Vor uns befindet sich das geschriebene Wort „Baum“.
Durch die Sinne wird Folgendes im Bewusstsein gebildet: Die Farbe, mit der das Wort geschrieben wurde, sowie das Aussehen und die Formung der Linien des geschriebenen Wortes. Diese Merkmale sind konkret und äußerlich, da sie sich nur auf das ausgeschriebene Wort beziehen, welches sich vor uns befindet und diese Merkmale nicht die Bedeutung des Wortes „Baum“ oder die Bedeutung von Zeichen umfassen.
Der Verstand jedoch erfasst mit seinen Begriffen sowohl das Wesen des Baumes also auch die Bedeutung von Zeichen. Mit dem Verstand erkennt der Mensch durch die Begriffe die objektive Wirklichkeit, sowie der Mensch mit den Sinnen und durch ihre Gegenstände im Bewusstsein die Außenwelt erkennt. Das heißt natürlich nicht, dass die Verstandeserkenntnis erschöpfend ist oder die einzelnen Begriffe vollständig sind, sondern das heißt, dass der Verstand, insoweit er versteht bzw. erkennt, authentisch versteht bzw. erkennt und dass die Begriffe, wenn die unten stehenden Bedingungen erfüllt sind, dem Grad ihres Inhaltes entsprechend, die Wirklichkeit erfassen. Oft wird unterschieden zwischen Begriffen und Begriffsinhalten. Der Begriff ist dasjenige, was vom Verstand gebildet wird und sich in unserem Bewusstsein befindet. Der Begriffsinhalt ist dasjenige, was durch den Begriff erkannt bzw. bezeichnet wird. Wenn der Verstand den Baum in seinem Wesen erfasst, ist der Baum im Bewusstsein der Begriff und das erkannte Wesen des Baums, welches sich außerhalb des Bewusstseins in jedem Baum befindet, der Begriffsinhalt.
Der Verstand
Beim Verstand werden drei Tätigkeitsarten voneinander unterschieden, auf die hier nacheinander eingegangen wird. Es wird bei jeder der drei Tätigkeitsarten gezeigt, wann sie evident und somit zuverlässig im Erkennen sind und worin die Unterschiede voneinander bestehen. Die kommenden Ausführungen über die Verstandestätigkeiten werden gegenüber möglichen Alternativen, die im Widerspruch zu ihnen stehen, nicht positiv bewiesen. Es werden auch nicht die möglichen Alternativen zu den folgenden Ausführungen über die Verstandestätigkeiten widerlegt. Dies ist nicht Aufgabe dieses Artikels und würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Die folgenden Ausführungen stehen in Übereinstimmung mit unseren grundlegenden Erfahrungen und unserer Introspektion. Darüber hinaus sind sie in sich schlüssig, kohärent und im Einklang mit den logischen und metaphysischen Grundsätzen. Jeder Ansatz zur Erklärung der Verstandestätigkeiten, der in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Erfahrungswissen und der Introspektion und in sich kohärent ist und dazu im Einklang mit den logischen und metaphysischen Grundsätzen steht, steht auch im Einklang mit den folgenden Ausführungen. Solche Ansätze stünden zu den folgenden Ausführungen in der Beziehung, dass sie entweder völlig identisch sind, verschiedene Hinsichten derselben Sache wären, oder sich inhaltlich ergänzen. Es ist unumgänglich, dass, wenn gewusst sein soll, wann Verstandeserkenntnis richtig ist und woran dies zu erkennen ist, ein Verständnis vom Verstandeserkennen und den Verstandestätigkeiten vorausgesetzt sein muss. Wenn ich nicht weiß, was der Verstand ist und wie er funktioniert, kann ich auch nicht darlegen, wann der Verstand richtig liegt. Wenn ich genauer wissen will, wie es sich mit der Evidenz beim Verstand verhält, muss ich Grundlagen darüber wissen, wie der Verstand funktioniert. Somit ist ein näheres Eingehen auf die Verstandestätigkeiten unumgänglich. Auf die Verstandestätigkeiten wird nur insoweit eingegangen, als sie mit Erkennen und Wahrheit in Zusammenhang stehen. Auf die Verstandestätigkeiten, die keinen Wahrheitsanspruch haben – wie z.B. das Bilden von Bitten oder Fragen mit dem Verstand –, wird nicht eingegangen.
Erste Verstandestätigkeit
Wie oben bereits gesehen, nennen wir das, was vom Verstand gebildet wird, Begriffe. Durch die Begriffe wird Beziehung zwischen dem Verstand und der Wirklichkeit hergestellt. Doch wie geht die Begriffsbildung genau vonstatten? Ausgangspunkt ist die Sinneserkenntnis. Durch die Sinne haben wir in unserem Bewusstsein die Sinnesgegenstände wie Farben, Umrisse, Töne und vieles mehr. Die Sinnesgegenstände können nicht nur, wenn sie gerade wahrgenommen werden, in unserem Bewusstsein sein. Wir haben auch die Fähigkeit, in Abwesenheit einer aktuellen Sinneserkenntnis, uns die sinnlichen Gegenstände in unserem Bewusstsein zu vergegenwärtigen. Dies ist eine der Möglichkeiten unseres Vorstellungsvermögens. Voraussetzung für unsere Begriffsbildung sind die sinnlichen Gegenstände in unserem Bewusstsein. Bei diesen fängt die erste Verstandestätigkeit an. In dieser ersten Verstandestätigkeit werden die sinnlichen Gegenstände in unserem Bewusstsein, durch die sogenannte Abstraktion, zu Begriffen umgewandelt. Doch was ist die Abstraktion? Die Abstraktion ist der Prozess, durch den sinnliche Bewusstseinsgegenstände verstehbar gemacht werden. Dies geschieht dadurch, dass in der Abstraktion das allgemeine Wesen aus den konkreten sinnlichen Gegenständen herausgehoben oder herausgezogen wird. Das Äußere der Sinnesgegenstände wird abgezogen, während sich dem Wesentlichen dessen, wovon die Sinne nur Äußerliches erfassen, zugewandt wird. In der Abstraktion wird zum einen dem Erkannten dasjenige weggenommen, was dem Erkannten konkret und äußerlich ist und nur diesem einen Erkannten zukommt (also dasjenige, was die Sinne erkennen, wie diese bestimmte Farbe oder Lage). Zum anderen wird in der Abstraktion dem Erkannten dasjenige zugeschrieben, was alle Einzeldinge oder Einzelwesen derselben Gruppe, Art oder Gattung gemeinsam haben, denen unser Erkanntes zugehört. Die Abstraktion hat ihren Ausgangspunkt beim Konkreten und endet beim Allgemeinen. Das Ergebnis der Abstraktion ist der Begriff. Mit „Allgemeinem“, „Wesen“ und „Innerem“, bezogen auf einzelne Dinge und Lebewesen, ist dasselbe mit gemeint. Ein an dieser Stelle oft verwendetes Beispiel ist das des Dreiecks. Nehmen wir an, vor uns befindet sich in irgendeiner Form ein Dreieck. Der Sehsinn erkennt an diesem Dreieck die Gestalt, Breite und Farbe der Linien, sowie die Größe des Dreiecks. Durch die Abstraktion wird der Begriff des Dreiecks bzw. des Dreieckig-Seins gewonnen, der das Wesen des Dreiecks beinhaltet, welches alle Dreiecke haben. Der Begriff des Dreiecks beinhaltet also, dass das Dreieck eine geometrische und zweidimensionale Figur mit drei geraden Linien ist. Die Linien sind an ihren Enden miteinander verbunden, sodass dadurch drei Ecken und Winkel gebildet sind. Die Winkelsumme beträgt 180°. Der gebildete Begriff kann vollständig oder unvollständig sein. Wenn der Begriff vollständig ist, umfasst er das ganze Wesen von etwas. Dies kommt jedoch höchstens sehr selten vor. In der Regel sind die Begriffe unvollständig, das heißt, sie umfassen nur Teile des Wesens von etwas. Im Laufe der Zeit vervollständigen sich durch viele Erkenntnisse – einschließlich Erfahrungen – die Begriffe. Nehmen wir zur besseren Veranschaulichung noch ein weiteres Beispiel, und zwar das eines Stuhls, der sich vor uns befindet. Die Sinne nehmen das Konkrete am Stuhl vor uns wahr, wie z.B. die rotbraune Farbe, das holzige Material, das Gewicht, die vier Beine und die Polsterung. Durch die Abstraktion wird von all diesen konkreten Merkmalen abgesehen und zu den Eigenschaften vorgedrungen, die alle anderen Stühle auch haben, nämlich dass der Stuhl ein Möbelstück zum Sitzen ist.
In dieser ersten Verstandestätigkeit sind die Begriffe einfach, d.h., sie sind und werden hier nicht mit anderen Begriffen in Beziehung gesetzt. Mit „anderen Begriffen“ sind hier diejenigen Begriffe gemeint, die nicht im Wesen des durch die Abstraktion gewonnenen Begriffs enthalten sind. Durch die Abstraktion der ersten Verstandestätigkeit können wir z.B. folgende Begriffe bilden: „Mamba“, „schwarz“ und „schwarze Mamba“. Der Begriff „Mamba“ beinhaltet in sich weitere, allgemeinere Begriffe, wie z.B. Schlange, Tier, Lebewesen, Substanz, Seiendes. Wenn durch die Abstraktion der ersten Verstandestätigkeit verstanden wird, was eine Mamba ist, heißt dies, dass der Verstand auch weiß, was eine Schlange, ein Tier, ein Lebewesen, eine Substanz und ein Seiendes sind. Der Verstand muss nicht unbedingt die Namen kennen, welche den Begriffsinhalten zugeschrieben werden, die von abstrahierten Begriffen eingeschlossen sind. Wahrscheinlich können z.B. nur Wenige etwas mit „Seiendes“ oder „Substanz“ anfangen, doch wird jeder, der verstanden hat, was eine Mamba ist, wissen, dass die Mamba etwas Existierendes ist und dass sie in sich besteht und nicht als Eigenschaft an etwas anderem ist, wie eine Farbe. Der Begriff „schwarz“ beinhaltet auch allgemeinere Begriffe, wie z.B. Farbe, Eigenschaft, Seiendes. Jeder, der den Begriff „schwarz“ kennt, versteht auch den Begriff „Farbe“. Jeder, der den Begriff „Farbe“ versteht, kennt auch den Begriff „Eigenschaft“ und so weiter. Das Allgemeinere wird vom Konkreten immer eingeschlossen. Darum wird das Allgemeine auch zuerst verstanden. Die allgemeineren Begriffsinhalte, die im Wesen eines konkreteren Begriffs notwendig enthalten sind, werden also bei der ersten Verstandestätigkeit immer mit erkannt. Diejenigen Begriffe, welche nicht notwendig im abstrahierten Begriff eingeschlossen sind, die also nicht Wesensbestandteil eines gewonnenen Begriffs sind, können in dieser ersten Verstandestätigkeit nicht in Beziehung zum abstrahierten Begriff gesetzt werden. Wir können z.B. durch eine Abstraktion den einen Begriff „schwarze Mamba“ bilden. Dies ist mit der ersten Verstandestätigkeit leicht möglich. Wir können auch durch zwei Abstraktionen die beiden Begriffe „schwarz“ und „Mamba“ mit der ersten Verstandestätigkeit bilden. Wir können mit der ersten Verstandestätigkeit jedoch nicht die beiden Begriffe „schwarz“ und „Mamba“ wie folgt zusammensetzen: Die Mamba ist schwarz. Solche Zusammenfügungen von Begriffen werden von der zweiten Verstandestätigkeit übernommen, auf die im weiteren Verlauf eingegangen wird. Doch zuvor wird sich noch der Frage nach der Zuverlässigkeit und Evidenz der ersten Verstandestätigkeit zugewandt.
Die erste Verstandestätigkeit ist das Abstrahieren. Durch das Abstrahieren werden aus sinnlichen Bewusstseinsgegenständen die Begriffe gemacht. Dieser Prozess ist unfehlbar. Die Abstraktion geschieht immer nur so weit, wie sie sicher ist. Wenn ein sinnlicher Bewusstseinsgegenstand für den Verstand nicht klar erkennbar wäre, würde die Abstraktion nur den Begriff „unbestimmtes Etwas“ ergeben, was auch zuträfe. In der Abstraktion sind die Voraussetzungen zum Irren nicht enthalten. Die erste Verstandestätigkeit hat keine Befähigung dazu, Begriffe zu bilden, die mit den sinnlichen Bewusstseinsgegenständen nicht übereinstimmen. Fehlinterpretationen im Verstand setzen komplexere Verstandesprozesse voraus, als es die erste Verstandestätigkeit vermag. Dafür sind die durch die erste Verstandestätigkeit gebildeten Begriffe unvollständig und bedürfen zur Erweiterung der anderen Verstandestätigkeiten. Weiter oben haben wir anhand des Dreieck-Beispiels den Abstraktionsprozess zu erklären versucht. Es wurde dargelegt, dass durch die Abstraktion das Wesen des Dreiecks erfasst wird. Dann wurden Wesenseigenschaften des Dreiecks zur besseren Veranschaulichung aufgezeigt. Jedoch vermag die erste Verstandestätigkeit nicht, alle der aufgezählten Wesensmerkmale des Dreiecks zu erfassen. Dass jedes Dreieck eine Winkelsumme von 180° hat – was somit eine Wesenseigenschaft des Dreiecks ist – erfordert mehrere Abstraktionen, die miteinander verbunden werden müssen, was durch die erste Verstandestätigkeit nicht vollzogen werden kann. Wenn bereits durch viele Erkenntnisse verschiedener Verstandestätigkeiten ein umfangreicherer Begriff des Dreiecks – oder von etwas anderem – gebildet ist, haben wir natürlich durch eine einfache Abstraktion Zugang zu dem umfangreicheren Begriff. Wenn der umfangreichere Begriff jedoch nicht gewonnen wurde, vermag die einfache Abstraktion nicht, komplexere Wesenseigenschaften zu erkennen.
Da die Abstraktion unfehlbar ist, da also das durch die Abstraktion Gewonnene immer dem entspricht, was wir an sinnlichen Gegenständen im Bewusstsein haben, verhält es sich mit der Evidenz genauso. Jede Abstraktion ist sowohl zuverlässig als auch evident. Wir wissen – durch z.B. obige Beispiele –, dass unser Verstand Wahres zu erkennen vermag. Somit haben wir auch Evidenz im Verstandeserkennen. Das Fundament und die Grundlage des Verstandes jedoch, ist die erste Verstandestätigkeit, die Abstraktion. Auf ihr bauen die weiteren Verstandestätigkeiten auf, doch dazu später mehr. Wenn der Verstand also Evidenzen hat, muss die erste Verstandestätigkeit als Fundament auch Evidenzen haben. Wenn die erste Verstandestätigkeit jedoch Evidenzen hat, muss jede Verstandestätigkeit, die der ersten Verstandestätigkeit zugerechnet wird, evident sein, da alle ersten Verstandestätigkeiten zueinander, hinsichtlich der Zuverlässigkeit – also hinsichtlich des Übereinstimmens zwischen abstrahiertem Begriff und sinnlichem Gegenstand, von dem abstrahiert wird – gleich sind. Wollen wir nun wissen, ob es den Begriffsinhalt des abstrahierten Begriffs der ersten Verstandestätigkeit in der Realität gibt, statt z.B. in der Virtualität, sollten wir schauen, unter welchen Umständen wir den sinnlichen Bewusstseinsgegenstand bzw. die sinnlichen Bewusstseinsgegenstände gewonnen haben, anhand dessen/derer der Begriff gebildet wurde. Wenn wir z.B. beim Fernsehen einen Drachen wahrnehmen, heißt dies nicht, dass der Begriffsinhalt des durch einfache Abstraktion entstandenen Begriffs „Drache“ real ist.
Zweite Verstandestätigkeit
Die zweite Verstandestätigkeit besteht darin, Begriffe miteinander in Beziehung zu setzen. Die zweite Verstandestätigkeit besteht im Verbinden und Trennen, im Bejahen und Verneinen. Das Verbinden und Trennen bzw. das Bejahen und Verneinen sind die Beziehungen zwischen den Begriffen. Durch dieses Verbinden und Trennen, bzw. Bejahen und Verneinen, also durch das Zueinander-In-Beziehung-Setzen von Begriffen, werden Aussagen gebildet. Die Aussagenbildung ist automatische Folge. Veranschaulichen wir uns das gerade Dargelegte an Beispielen: Der Himmel ist blau. Das Ding vor mir ist kein Stein. Bücher vermitteln Bildung. Die Erde dreht sich um die Sonne. Berge sind golden. Kein Affe ist rational. Messer und Löffel sind hart und handlich.
In den Beispielsätzen wurden Begriffe miteinander in Beziehung gesetzt. Die Beziehungssetzung war in den Beispielen entweder bejahend bzw. verbindend oder verneinend bzw. trennend. Die zueinander in Beziehung gesetzten Begriffe ergaben Aussagen. Die Existenz einer Aussage ist kein Garant für Wahrheit. Aussagen können auch falsch sein. In der ersten Aussage wurden die beiden Begriffe „Himmel“ und „blau“ miteinander verbunden. In der zweiten Aussage wurde der Begriff „Stein“ vom Begriff „Dasjenige Etwas, was sich vor mir befindet“ getrennt. In der dritten Aussage wurden die beiden Begriffe „Bücher“ und „Bildung vermitteln“ miteinander verbunden. In der vierten Aussage wurden die Begriffe „Erde“ und „sich um die Sonne drehen“ verbunden und in der fünften die Begriffe „Berge“ und „goldfarbig sein“. In der sechsten Beispielaussage wurden die Begriffe „Affe“ und „rational“ voneinander getrennt und in der siebten Aussage wurden die beiden Begriffe „Messer“ und „Löffel“ jeweils mit den beiden Begriffen „hart“ und „handlich“ verbunden.
Vorab sei angemerkt, dass es weitere Arten der Beziehungssetzung gibt, verbinden und trennen, bzw. bejahen und verneinen, doch wird auf sie nicht weiter eingegangen. Jede Aussage enthält mindestens ein Subjekt und mindestens ein Prädikat. Das Subjekt einer Aussage ist derjenige Begriff, um den es in der Aussage geht. Das Prädikat einer Aussage ist derjenige Begriff, der eine Beschreibung über das Subjekt enthält. Bezogen auf die Beispielaussagen sieht es wie folgt aus: In der ersten Aussage ist der Begriff „Himmel“ das Subjekt und der Begriff „blau“ das Prädikat. Das Prädikat wird hier vom Subjekt – immer durch den Verstand – bejaht. In der zweiten Aussage ist der Begriff „Dasjenige Etwas, was sich vor mir befindet“ das Subjekt und der Begriff „Stein“ das Prädikat. Hier wird das Prädikat vom Subjekt verneint. In der dritten Aussage ist „Bücher“ das Subjekt und „Bildung vermitteln“ das Prädikat. Das Prädikat wird hier vom Subjekt bejaht. In der vierten Aussage ist „Erde“ das Subjekt und „sich um die Sonne drehen“ das Prädikat. Das Prädikat wird auch hier vom Subjekt bejaht. In der Fünften ist „Berge“ das Subjekt und „golden“ das Prädikat, in der Sechsten ist „(alle) Affen“ das Subjekt und „rational“ das Prädikat und in der Siebten sind „Messer“ und „Löffel“ die Subjekte und „hart“ und „handlich“ die Prädikate.
Bevor wir zur Zuverlässigkeit und Evidenz der zweiten Verstandestätigkeit vordringen, wenden wir uns einer bedeutsamen Möglichkeit des Verstandes in der zweiten Verstandestätigkeit zu. Weiter oben sahen wir, dass Begriffe allgemein sind. In den Beispielen von Begriffen, die wir wenige Zeilen zuvor lasen, waren jedoch auch Einzeldinge, die als – vom Verstand erfasst und sich in ihm befindend – Begriffe bezeichnet wurden, wie z.B. „das Ding vor mir“ und „unsere Sonne“. Die Möglichkeit des Verstandes, ab der zweiten Verstandestätigkeit sich auf Einzelnes zu beziehen, nennt sich Reflexion bzw. kommt durch die Reflexivität. In der Reflexion geht der Verstand den Weg des Erkennens, so wie wir ihn hier bisher kennengelernt haben, rückwärts. Bisher haben wir folgendes kennengelernt: Die Sinne erfassen etwas. Das von den Sinnen Erfasste wird im Bewusstsein in gewisser Weise aufgenommen. Das durch die Sinne im Bewusstsein Aufgenommene ist das, wodurch die Sinne dasjenige erkennen, was sich außerhalb des Bewusstseins befindet. Man könnte auch sagen, dass durch die sinnliche Erfassung, die Sinne im Bewusstsein dasjenige bilden, wodurch sie erkennen. Das durch die Sinne im Bewusstsein Gebildete – bzw. das von den Sinnen im Bewusstsein Aufgenommene – ist nun dasjenige, von dem die erste Verstandestätigkeit abstrahiert und einen allgemeinen Begriff bildet. Durch den allgemeinen Begriff versteht der Verstand das Wesen dessen, welches vom allgemeinen Begriff bezeichnet wird, worauf der allgemeine Begriff verweist, welches vom allgemeinen Begriff dargestellt wird. Durch die Reflexivität vermag der Verstand es nun, durch den allgemeinen Begriff nicht nur das Wesen zu erkennen, welches der allgemeine Begriff beinhaltet, sondern den allgemeinen Begriff selbst zu erkennen. Die Reflexivität kann auch weiter gehen und nicht nur den allgemeinen Begriff im Bewusstsein erkennen, sogar auch, wie der allgemeine Begriff gebildet wurde, nämlich durch die Abstraktion. Durch die Reflexion kann die Abstraktion rückwärts gegangen werden und dort auskommen, wo sie begann: bei dem sinnlichen Gegenstand im Bewusstsein. Natürlich kann die Reflexion noch weiter gehen, bis sie bei der Person endet, welche sie vollzieht. Hier ist es jedoch von Interesse näher darauf einzugehen, was in der Reflexion vom Verstand erkannt wird, wenn er beim sinnlichen Bewusstseinsgegenstand endet. Die Wesenseigenschaften der allgemeinen Begriffsinhalte, von dem die Reflexionen ihren Anfang nehmen, werden denjenigen zugeschrieben, die mit den Sinnen durch den sinnlichen Bewusstseinsgegenstand erkannt werden. Der Ausgangspunkt der Abstraktion ist der Endpunkt der Reflexion. Dadurch wird dem Einzelnen der Reflexion das Wesen des Allgemeinen zugeschrieben, von dem die Reflexion ihren Anfang nahm (dem allgemeinen Begriff) und dem das Einzelne zuordbar ist, wie eine konkrete Person der Art Mensch (dem Begriff „Mensch“) zuordbar ist. Darüber hinaus können auch weitere Eigenschaften im reflexiven Erkennen des Einzelnen hinzukommen, wie z.B. Qualitäten, Quantität, Ort, Zeit und Beziehungen, die nur auf unser Einzelnes zutreffen und nicht auf das Allgemeine, dem das Einzelne zugerechnet wird. Veranschaulichen wir uns das an folgendem Beispiel: vor uns befindet sich ein Baum. Die Augen sehen den Baum, der Tastsinn fühlt den Baum und die Nase riecht den Baum. Das vom Baum sinnlich Erfasste, befindet sich in unserem Bewusstsein und ist der sinnliche Bewusstseinsgegenstand. Von diesem sinnlichen Bewusstseinsgegenstand abstrahiert der Verstand das Wesen, indem er den allgemeinen Begriff bildet, mit dem er den Begriffsinhalt (dieser ist das Wesen) versteht, und zwar, dass der Baum ein Holzgewächs ist, mit festem Stamm, aus dem Äste wachsen, die sich in Laub oder Nadeln tragende Zweige teilen. Dieses Wesen des Baumes, also auch der Begriff des Baumes, umfasst alle einzelnen Bäume. Die Erkenntnis bzw. Vergegenwärtigung dieses allgemeinen Begriffs „Baum“, kann der Verstand reflektieren, indem er die Erkenntnis rückwärts geht. Dies beginnt dadurch, dass der Verstand, angefangen vom Begriffsinhalt aus, den Begriff selbst erkennt. Anschließend durchläuft er die Abstraktion rückwärts und kommt bei dem an, von wo die Abstraktion aus begann, dem sinnlichen Bewusstseinsgegenstand. Der Verstand erfasst inhaltlich natürlich nicht die Sinneseindrücke des Bewusstseinsgegenstandes. Er erfasst jedoch die Existenz dieser Sinneseindrücke, er weiß also, dass es Sinneseindrücke gibt und dass diese Sinneseindrücke sich auf ein Einzelding davon beziehen, wovon die Abstraktion das allgemeine Wesen erfasst hat. Das Wissen um die Existenz der Sinneseindrücke wird dadurch erlangt, dass eine notwendige Gleichsetzung automatisch klar (evident) ist zwischen dem, von dem aus, die aktuelle Abstraktion ihrem Anfang nahm, mit dem, was durch die Sinne aktuell im Bewusstsein ist. Wenn wir also einen Begriff in unserem Bewusstsein durch Abstraktion gewonnen haben – dies wäre uns durch Evidenz eindeutig –, weiß unser Verstand, dass es etwas geben muss, von dem aus, die Abstraktion begann und dass dieses „etwas“ nur der sinnliche Bewusstseinsgegenstand bzw. die Sinneseindrücke in unserem Bewusstsein sein können, deren Inhalt er zwar nicht erfahren, empfinden oder wahrnehmen kann, doch deren Wesen er verstehen kann. Zum Wesen der Sinne gehört z.B., dass sie sich nur auf Einzelnes beziehen können, was leicht verstehbar ist.
Mit der Reflexion wird also eine Gleichsetzung vollzogen zwischen „ein Einzelding der Art Baum bzw. ein einzelner Baum“ und „der aktuelle sinnliche Bewusstseinsgegenstand“. Anschließend kann der Verstand dem einzelnen Baum, der gerade von den Sinnen wahrgenommen wird, Eigenschaften zuschreiben, die nur der einzelne Baum vor uns hat. Dazu zählen der Ort „vor uns“, die Zeit „Gegenwart“, die etwaige Anzahl der Äste, die ungefähre Gesamtgröße, die genaue Art, der Abstand zu anderen Bäumen und so weiter. Die individuellen Eigenschaften werden auch durch Abstraktion und Reflexion gewonnen. Die verstandesmäßige Erfassung einzelner äußerer Eigenschaften (Akzidenzien) von Dingen und Lebewesen (Substanzen) erfolgt entsprechend der verstandesmäßigen Erfassung einzelner Dinge und Lebewesen. Was hier durch viele Unterscheidungen umfangreich ausformuliert ist, geschieht im realen Vollzug innerhalb kürzester Zeit. Das mit der Reflexion erfasste Einzelne durch den Verstand haben wir hier auch Begriff genannt. Wir unterscheiden beide Begriffsarten im Folgenden, indem wir ihre Art – „allgemein“ oder „individuell“ – ab jetzt immer mitnennen. Interessant zu wissen wäre vielleicht, dass jeder individuelle Begriff in sich notwendig mehrere Allgemein-Begriffe enthält und dass jeder Allgemein-Begriff viele individuelle Begriffe umfasst, die ihm zugerechnet werden.
Wenn der Verstand bei der Aussagenbildung als Subjekt einen individuellen Begriff hat, sind die Prädikate immer Allgemein-Begriffe. Die Individualität des individuellen Begriffs besteht in der individuellen Kombination prädikativer Allgemein‑Begriffe. Die einzige Ausnahme sind Beziehungen (Relationen), die auch als prädikative Begriffe eines individuellen Begriffssubjekts individuell sein können. Beispiele für die Allgemeinheit prädikativer Begriffe: Die Baha ist schlau, nett und schön. Die Stute vor mir ist außergewöhnlich kräftig und trägt ein golden schimmerndes Fell. Mein Bruder ist zwei Meter groß und Armwrestler. Bei der ersten Aussage ist der Begriff „Baha“ das Subjekt und die Begriffe „schlau“, „nett“ und „schön“ sind die Prädikate. Die Prädikate dieser Aussage sind nicht nur auf die Baha zu beschränken, sondern können auch zahlreichen weiteren Subjekten zugeschrieben werden. Bei der zweiten Aussage ist „die Stute vor mir“ das Subjekt und „außergewöhnlich kräftig“ und „golden schimmerndes Fell tragend“ die Prädikate. Beide Prädikate sind nicht nur auf das Subjekt der Beispielaussage begrenzbar. Gleiches gilt für Beispielaussage drei. Die Prädikate sind hier „zwei Meter groß“ und „Armwrestler sein“. Beide Prädikate sind auf zahlreiche Subjekte anwendbar. Beispiele für die Ausnahme der Individualität relationaler Prädikate: Die Frau vor mir ist das einzige Kind ihrer Eltern. Die Granadilla war das Erste, das ich gestern aß. Bei der ersten Beispielaussage ist „die Frau vor mir“ das Subjekt und „einziges Kind ihrer Eltern“ das Prädikat. So allgemein gehalten kann das Prädikat natürlich auf viele Subjekte bezogen werden. Doch wenn im Prädikat konkretisiert würde, wer genau die Eltern sind – einziges Kind der Eltern XYZ –, träfe dieses relationale Prädikat nur auf die Frau vor mir zu. Gleiches gilt für das darauffolgende Beispiel. Das Prädikat ist „das Erste, das ich gestern aß“ und kann, so allgemein gehalten, auf viele zutreffen. Würde es konkretisiert werden – das Erste, das ich XYZ gestern xx.xx.xxxx aß –, kann es höchstens einmal wirklichkeitsgemäß angewendet werden bzw. kann es nur ein Subjekt dafür geben.
Im Folgenden wenden wir uns der Zuverlässigkeit und Evidenz der zweiten Verstandestätigkeit bzw. der Aussagenbildung zu. Hier müssen zwei Arten von Aussagen unterschieden werden. Einmal Aussagen, die individuelle Begriffe beinhalten, und dann Aussagen, die keine individuellen Begriffe beinhalten. Wir wenden uns zunächst denjenigen Aussagen zu, die individuelle Begriffe beinhalten. Wichtig ist hier, dass wir von Aussagen sprechen, die nur durch zueinander in Beziehung gesetzte Begriffe gebildet wurden. Es gibt auch die Möglichkeit, Aussagen durch Schlussfolgerungen zu bilden, doch dies wird bei der dritten Verstandestätigkeit behandelt.
Eine Aussage, die individuelle Begriffe beinhaltet und durch die zweite Verstandestätigkeit gebildet wurde, ist genau dann wahr und evident, wenn zum einen Subjekt und Prädikat als Begriffe bekannt sind und zum anderen die Art der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat selbst festgestellt oder erfahren wird. Beispiele: Der Baum vor mir ist grün. Mein Zollstock hat nicht eine Länge von drei Metern. Im ersten Beispiel ist die Art der Beziehung die Verbundenheit bzw. wird das Prädikat vom Subjekt bejaht. Wir stehen hier vor einem Baum, der grün ist. Das Subjekt ist „der Baum vor mir“ und das Prädikat ist „grün“. Beide Begriffe sind mir klar. Wenn nun wirklich vor mir ein Baum steht – dies ist zum einen durch die Sinne und zum anderen durch Abstraktion und Reflexion evident – und wenn dieser evident vor mir stehende Baum auch wirklich grün ist, was ebenfalls durch die Sinne und durch eine weitere Abstraktion evident ist, erfahre ich die Verbundenheit zwischen Subjekt und Prädikat und weiß um die Echtheit eines Baumes vor mir, der grün ist. Bei der zweiten Aussage ist die Art der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat das Getrenntsein. Das Prädikat wird vom Subjekt verneint. Subjekt ist „mein Zollstock“ und Prädikat ist „eine Länge von drei Metern“. Von meinem Zollstock weiß ich bereits, dank mehrfacher Erkenntnisse durch die Sinne, Abstraktion und Reflexion. Was drei Meter Länge ist, weiß ich auch. Wenn ich nun durch die Sinne, Abstraktion und Reflexion feststelle, dass mein Zollstock nur zwei Meter lang ist, erfahre ich das Getrenntsein zwischen Subjekt und Prädikat und weiß somit um die Wahrheit der zweiten Beispielaussage.
Aussagen mit individuellen Begriffen sind letztlich das, wo Fehlinterpretationen zustande kommen können. Angenommen, vor uns befindet sich in der Ferne ein Nashorn, welches als Nilpferd interpretiert wird, dann bilden wir folgende Aussage: Das in der Ferne Gesehene ist ein Nilpferd. Subjekt ist „das in der Ferne Gesehene“ und Prädikat ist „Nilpferd“. Beide Begriffe sind mir zwar bekannt, doch ich stelle nicht deren Verbundenheit fest. Die Verbundenheit festzustellen beinhaltet, Evidenz durch Abstraktion darüber zu haben, was das Gesehene ist. Doch ich habe das Prädikat in der Aussage ohne Evidenz gebildet, da ich falsch liege. Ich habe vorschnell ein Urteil bzw. eine Aussage gebildet. Ich war bislang nicht zu einer solchen Aussage befähigt. Anstelle dessen wäre folgende Aussage richtiger gewesen: Das in der Ferne Gesehene scheint mir ein Nilpferd zu sein. In allen Fällen, in denen jemand falschliegt, ist keine Evidenz dabei. Es gibt jedoch Fälle, in denen jemand richtigliegen kann, ohne dass Evidenz mit dabei ist, wenn man z.B. etwas als richtig errät oder vermutet.
Im Folgenden wenden wir uns der Wahrheit und Evidenz von Aussagen zu, die keine individuellen Begriffe beinhalten, sondern nur aus Allgemein-Begriffen bestehen bzw. gebildet sind. Weiter oben im Artikel haben wir bereits eine Unterscheidung von mittelbarer und unmittelbarer Evidenz vorgenommen, die auf Aussagen bezogen wurde. Hier, bei der zweiten Verstandestätigkeit, gibt es bei der Aussagenbildung keine mittelbare Evidenz. Es gibt jedoch unmittelbare Evidenz, und zwar bei denjenigen Aussagen, die Prinzipien oder Grundsätze sind. Dies sind diejenigen Sätze, die aus sich selbst heraus wahr sind und auch als solche – wegen der unmittelbaren Evidenz – erkannt werden. Es sind diejenigen Aussagen, die als Ursprung für Schlussfolgerungen fungieren, deren Ergebnis wahr ist. Es gibt keine Maßstäbe, an denen unmittelbar evidente Aussagen als solche bemessen werden könnten. Evidenz wird erfahren und in der Erfahrung ist man sich der Wahrheit bewusst. Es ist zwar möglich, das Bestreiten unmittelbar evidenter Aussagen ad absurdum zu führen. Doch etwas ad absurdum zu führen, heißt, das Bestreiten solcher Grundsätze als sinnlos bzw. in sich widersprüchlich hinzustellen. Da die Notwendigkeit der Widerspruchslosigkeit wahrer Aussagen jedoch selbst ein Grundsatz ist, würden diejenigen, welche für die Gültigkeit solcher Grundsätze argumentierten, diese in ihrer Argumentation, bereits als gültig voraussetzen. Auf der anderen Seite muss jedoch auch angemerkt werden, dass diejenigen, welche solche Grundsätze infrage stellen, sich in der Infragestellung bereits der Grundsätze bedienen. Jemand, der infrage stellt, dass Widersprüche nicht zugleich wahr sein können, setzt für seine Infragestellung schließlich eine eindeutige Bedeutung voraus, die nicht zugleich auch ihr Gegenteil bedeutet. Weiter oben sind bereits Beispiele für unmittelbar evidente Grundsätze gemacht worden. Hier seien ein paar weitere aufgelistet: Aus und durch nichts kann kein Sein entstehen. Alles Erkannte muss erkennbar sein. Die Tochter ist jünger als ihre Mutter. Auf die Zahl zwei folgt als nächstgrößere ganze Zahl die drei.
Als oberster bzw. allgemeinster Grundsatz gilt: „Etwas kann in derselben Hinsicht nicht zugleich sein und nicht-sein“. Er gilt aus zweierlei Gründen als der allgemeinste Grundsatz. Zum einen, insofern alle weiteren Aussagen und darüber hinaus alles Existente, ihn als wahr voraussetzen. Zum anderen, da in ihm keine anderen Grundsätze enthalten sind, während er in anderen Grundsätzen enthalten ist. Beispiel: Das Ganze ist größer als eines seiner Teile. Zum einen bedeutet die Aussage nicht zugleich auch ihr Gegenteil. Zum anderen würde der erste Grundsatz angegriffen werden, falls dieses Beispiel infrage gestellt wird, da dann etwas in derselben Hinsicht zugleich ist (das Teil ist größer) und nicht ist (das Teil ist nicht größer). Diejenigen Grundsätze, in denen der erste Grundsatz enthalten ist, sind somit konkretere Formen des ersten Grundsatzes. Solche konkreteren Formen des ersten Grundsatzes sind selbst unmittelbar evident, da der erste Grundsatz unmittelbar evident ist. Andernfalls wären es übrigens keine Grundsätze. Im weiteren Verlauf wird jedoch nicht weiter auf die Beziehung des ersten Grundsatzes zu anderen Grundsätzen eingegangen.
Neben Grundsätzen können unmittelbar evidente Aussagen, die aus Allgemein-Begriffen bestehen, auch offenbar analytische Aussagen sein. Eine analytische Aussage ist eine Aussage, deren Prädikat Teil des Wesens des Begriffsinhalts vom Subjekt ist. Offenbar analytisch ist eine Aussage, wenn das Subjekt der Aussage nur verstanden sein kann, wenn ihm das Prädikat der Aussage zugeschrieben wird. Beispiel einer offenbar analytischen Aussage: Ein Quadrat hat vier rechte Winkel. Das Prädikat „vier rechte Winkel“ ist Teil des Wesens des Subjekts „Quadrat“. Darüber hinaus kann das Quadrat nur verstanden werden, wenn man weiß, was vier rechte Winkel sind. Beispiel einer nicht offenbar analytischen Aussage: Ein Quadrat hat eine Winkelsumme von 360°. Das Prädikat „Winkelsumme 360°“ ist Teil des Wesens des Subjekts „Quadrat“. Das Quadrat kann jedoch teilweise und unvollständig verstanden werden, ohne zu wissen, dass seine Winkelsumme 360° beträgt.
Unmittelbar evidente Aussagen können also entweder allgemeine Grundsätze oder offenbar analytische Aussagen sein. Zwar gibt es keine Kriterien für die Erkennbarkeit unmittelbar evidenter Aussagen, doch dies ist auch nicht nötig, da unmittelbar evidente Aussagen evident – also klar, offensichtlich, eindeutig – sind. Würde es solche Kriterien für unmittelbar evidente Aussagen geben, wären es keine unmittelbar evidenten Aussagen mehr. Sie hätten von den Kriterien ihre Evidenz vermittelt bekommen. Darüber hinaus müssten solche Kriterien selbst evident sein, um Evidenz vermitteln zu können, und zwar entweder mittelbar oder unmittelbar. Da bei allen mittelbar evidenten Inhalten die Evidenz von etwas abgeleitet wird, muss eine Rückführung von Evidenz immer bei etwas unmittelbar Evidentem enden. Bei Aussagen sind diejenigen, bei denen eine solche Reihe endete, unsere unmittelbar evidenten Aussagen. Insofern muss es unmittelbar evidente Aussagen geben, wenn es Sätze gibt, die sicher wahr sein sollen. Wenn man eine unmittelbar evidente Aussage vor sich hat und sie versteht, weiß man um ihre Wahrheit. Wenn man eine unmittelbar evidente Aussage vor sich hat und nicht um ihre Wahrheit weiß, hat man sie nicht verstanden. Es sind nicht alle unmittelbar evidenten Aussagen gleich leicht verstehbar.
Dritte Verstandestätigkeit
Die dritte Verstandestätigkeit besteht im Schlussfolgern. Sie beginnt dort, wo die zweite Verstandestätigkeit endet: bei den Aussagen. Die Aussagen sind es, die, von der dritten Verstandestätigkeit, miteinander in Beziehung gesetzt werden. Sowie die zweite Verstandestätigkeit mit den Begriffen arbeitet, arbeitet die dritte Verstandestätigkeit mit den Aussagen. Es gibt verschiedene Weisen, wie die dritte Verstandestätigkeit Aussagen zueinander in Beziehung setzen kann, um Wahres zu erhalten. Jede Weise schließt Voraussetzungen ein. Das Ergebnis einer Schlussfolgerung setzt immer zueinander in Beziehung gesetzte Aussagen voraus, aus denen es gewonnen wird. Somit sind Wahrheit und Evidenz, die durch die dritte Verstandestätigkeit gewonnen werden, immer mittelbar und niemals unmittelbar. Im weiteren Verlauf wenden wir uns den verschiedenen Weisen zu, wie durch die dritte Verstandestätigkeit Aussagen zueinander in Beziehung gesetzt werden, um Wahrheit und Evidenz zu gewinnen.
Die erste Weise – um durch zueinander in Beziehung gesetzten Aussagen Wahres zu erkennen – besteht darin, vom Allgemeineren auf etwas Konkreteres zu schließen. Dies geschieht immer durch drei Aussagen. Die ersten beiden Aussagen heißen Prämissen (Voraussetzungen) und die dritte Aussage heißt Konklusion (Schluss). Die Konklusion wird aus den Prämissen abgeleitet. Die Wirksamkeit dieser ersten Weise des Schlussfolgerns besteht in folgenden unmittelbar evidenten Aussagen, welche auch als Grundgesetze dieser Weise des Schlussfolgerns angesehen werden: Was von allen Subjekten eines Begriffs bejaht wird, muss auch von jedem einzelnen Subjekt bejaht werden, das unter diesen Begriff fällt. Was von allen Subjekten eines Begriffs verneint wird, muss auch von jedem einzelnen Subjekt verneint werden, das unter diesen Begriff fällt. Wenn zwei Begriffe mit einem dritten übereinstimmen, müssen sie auch unter sich übereinstimmen. Es gibt noch weitere Grundgesetze dieser Weise des Schlussfolgerns, auf die hier nicht eingegangen wird. Alle die sich hierfür interessieren, verweise ich auf die Schlussregeln bzw. Grundgesetze der Deduktion, über die es zahlreiche Arbeiten gibt.
Wir fahren mit zwei Beispielen für diese erste Weise des Schlussfolgerns fort. Erstens: Alle Vögel haben Federn. Der Adler ist ein Vogel. Also hat der Adler Federn. Zweitens: Tiere sind keine Steine. Die Hummel ist ein Tier. Also ist die Hummel kein Stein. Im ersten Beispiel wird von der Gattung „Vogel“ die Eigenschaft, Federn zu haben, auf die Art „Adler“ übertragen. Vom Begriff „alle Vögel“ wird bejaht, dass er Federn hat. Da der Begriff „Adler“ zum Begriff „alle Vögel“ zugerechnet wird, wird auch vom Begriff „Adler“ bejaht, Federn zu haben. Im zweiten Beispiel wird von der Gattung „Tier“ das Prädikat, kein Stein zu sein, auf die Art „Hummel“ übertragen. Vom Begriff „Tier“ wird verneint, dass er ein Stein ist. Da der Begriff „Hummel“ zum Begriff „Tier“ zugerechnet wird, wird auch vom Begriff „Hummel“ verneint ein Stein zu sein. Für die Gültigkeit dieser Weise des Schlussfolgerns gibt es einige selbstverständliche Regeln, wie dass z.B. die Begriffe in der Konklusion nicht in größerem Umfang genommen werden dürfen als in den Prämissen, oder dass aus zwei partikularen Prämissen keine Konklusion folgt. An die Interessenten solcher Regeln wir hier auf den Teil der Logik verwiesen, der von den Regeln der Deduktion handelt.
Das Ergebnis der ersten Weise des Schlussfolgerns dieser dritten Verstandestätigkeit ist immer nur mittelbar evident. Die Vermittlung geschieht über die Prämissen, von denen die Evidenz abgeleitet wird. Voraussetzung für die mittelbare Evidenz der Wahrheit der Konklusion ist die mittelbare oder unmittelbare Evidenz der Prämissen. Wenn die Prämissen also nicht mittelbar oder unmittelbar evident sind, kann die Konklusion zwar gültig gezogen werden, sie ist deswegen jedoch nicht evident und wahr. Wenn die Prämissen nur mittelbar evident sind, müssen sie selbst durch Schlussfolgerungen gewonnen worden sein, die in unmittelbar evidenten Aussagen enden. Beispiel: Alle Vierecke mit vier Symmetrieachsen haben vier rechte Winkel. Vor uns befindet sich ein Viereck mit vier Symmetrieachsen. Das Viereck vor uns hat also vier rechte Winkel. Die beiden Prämissen müssen, wenn die Konklusion wahr und mittelbar evident sein soll, selbst mittelbar oder unmittelbar evident sein. Ob die zweite Prämisse evident ist, hängt davon ab, ob sich tatsächlich vor uns ein solches Viereck befindet und ob wir es gerade wahrnehmen. Angenommen, dem ist so, dann wäre die zweite Prämisse unmittelbar evident. Was die erste Prämisse angeht, kann ihr mittelbare Evidenz zugeschrieben werden. Das setzt jedoch eine Schlussfolgerung voraus, deren Konklusion mit unserer ersten Prämisse identisch ist und deren beide Prämissen unmittelbar evident sind oder selbst durch Schlussfolgerungen gewonnen wurden, die in unmittelbar evidenten Prämissen enden. Für unsere erste Prämisse sieht die Schlussfolgerung wie folgt aus: Ein Quadrat hat immer vier rechte Winkel. Alle Vierecke mit vier Symmetrieachsen sind Quadrate. Alle Vierecke mit vier Symmetrieachsen haben vier rechte Winkel. In dieser Schlussfolgerung sind die beiden Prämissen, wenn sie verstanden wurden, unmittelbar evident und die Konklusion gültig und somit wahr und mittelbar evident. Dadurch ist auch die Konklusion der ersten Schlussfolgerung, nämlich dass das Viereck vor uns vier rechte Winkel hat, mittelbar evident und wahr. Bei dieser ersten Weise des Schlussfolgerns ist die Konklusion immer zwingend wahr, wenn die Prämissen auch wahr sind und die Konklusion gültig ist (der Inhalt dieses Satzes ist unmittelbar evident). Die Konklusion ist nicht nur wahrscheinlich oder relativ wahr, sondern notwendig und absolut. Davon zeugt die mittelbare Evidenz der Schlussfolgerung, wenn die Voraussetzungen – mittelbare oder unmittelbare Evidenz der Prämissen und gültige Konklusion – erfüllt sind. Dies ist bei der zweiten Weise des Schlussfolgerns anders.
Die zweite Weise des Schlussfolgerns setzt sich aus zwei Aussagen zusammen. Die erste Aussage ist die Prämisse und die zweite Aussage ist die Konklusion. Im Gegensatz zur ersten Weise des Schlussfolgerns wird hier nicht vom Allgemeineren zum Konkreteren vorgedrungen, sondern vom Konkreten aufs Allgemeine geschlossen. Die Rechtfertigung für das Schließen des Konkreten aufs Allgemeine ist etwas, das weiter oben in diesem Artikel dargelegt wurde, nämlich allgemeine Wesenheiten oder Formen von Dingen und Lebewesen. Wenn es allgemeine Wesenheiten oder Formen gibt, die in Individuen vereinzelt sind, kann von den Individuen auf die allgemeinen Wesenheiten bzw. Formen der Individuen geschlossen werden, welche die Individuen mit anderen Individuen gemeinsam haben. Beispiel: Wenn das Individuum, welches „Baha“ genannt wird, die Wesenheit „Mensch“ besitzt, muss sie in dem, was sie zu einem Menschen macht, Gemeinsamkeiten haben mit anderen Individuen, welche die Wesenheit „Mensch“ haben. Gleiches gilt für alle anderen Wesenheiten. Dazu zählen sämtliche Tiere, Pflanzen und unbelebte Dinge. Da jedoch nicht alles Konkrete, welches an Individuen beobachtbar ist, in den Dingen und Lebewesen aufgrund der allgemeinen Wesenheit besteht – es gibt auch Beobachtbares, das an den Individuen ihre Individualität begründet –, ist die Konklusion dieser zweiten Weise des Schließens nicht absolut, sondern relativ, und niemals notwendig, sondern immer nur mehr oder weniger wahrscheinlich. Bei dieser Weise des Schließens ist die Konklusion umso wahrscheinlicher, je mehr gleiche Beobachtungen von etwas getätigt wurden. Beispiel: Alle Schwäne, die ich in meinem Leben gesehen habe, sind weiß. Also sind alle oder zumindest die meisten Schwäne weiß. Die Sicherheit dieser Konklusion hängt von den mir zur Verfügung stehenden Informationen durch Beobachtung über Schwäne ab. Je mehr Schwäne ich gesehen habe, umso wahrscheinlicher wird die Konklusion. Sie ist jedoch niemals zwingend, da es für mich nicht überprüfbar ist, wie viele Schwäne ich bisher nicht gesehen habe und wie das Verhältnis der von mir gesehenen Schwäne zu den von mir bisher nicht gesehenen Schwänen ist. Die Evidenz dieser zweiten Weise des Schließens bezieht sich also niemals auf die Wahrheit des Inhalts der Konklusion, sondern immer nur auf die Wahrheit der mehr oder weniger großen, relativen Wahrscheinlichkeit des Inhalts der Konklusion.
In der dritten Weise des Schlussfolgerns geht es etwas komplexer zu. Sie bezieht sich auf (metaphysische) Theorien, die nicht durch die erste Weise des Schlussfolgerns als wahr bewiesen werden können, wie z.B. die Frage nach dem Wesen von Wahrheit oder dem Guten. Wenn eine Theorie durch die dritte Weise des Schlussfolgerns als wahr erkannt werden soll, müssen zunächst über den Sachverhalt der entsprechenden Theorie alle logischen Möglichkeiten erarbeitet werden bzw. es müssen alle logisch möglichen Theorien den Sachverhalt betreffend herausgearbeitet werden. Dann muss eine Theorie als in sich schlüssig und kohärent dargestellt und alle anderen Theorien müssen als falsch widerlegt werden. Die Widerlegung kann auf zwei Arten vollzogen werden: entweder dadurch, dass gezeigt wird, dass eine Theorie in sich widersprüchlich ist, oder dadurch, dass gezeigt wird, dass eine Theorie im Widerspruch zu sicher evidenten Inhalten steht. Sobald dies vollzogen wurde – alle logisch möglichen Theorien eines Sachverhaltes herauszuarbeiten, alle bis auf eine zu widerlegen und die eine als in sich schlüssig und kohärent darzustellen –, ist die eine, in sich schlüssige und kohärente Theorie mittelbar evident und somit wahr. Bei allen logisch möglichen Theorien eines Sachverhaltes muss eine Theorie wahr sein – das Wesen des Sachverhaltes nicht erkennen zu können, ist selbst auch eine logisch mögliche Theorie von Sachverhalten –, deswegen ist immer diejenige Möglichkeit wahr, die übrig bleibt, wenn alle anderen Möglichkeiten sicher widerlegt wurden. Das Ergebnis dieser dritten Weise des Schlussfolgerns ist immer nur mittelbar evident. Es ist jedoch möglich, mit dieser dritten Weise des Schlussfolgerns manche unmittelbar evidenten Aussagen als mittelbar evident zu beweisen (bzw. in weiterem Sinne oder indirekt zu beweisen). Das ist mit der ersten Weise des Schlussfolgerns nicht möglich. Sie kann nur direkt beweisen und unmittelbar evidente Aussagen sind nicht direkt beweisbar. Durch die höhere Komplexität dieser dritten Weise des Schlussfolgerns, können sich hier leichter Fehler einschleichen. Wenn sie jedoch gültig vollzogen wird, ist das Ergebnis zwingend und absolut wahr. Dass diese dritte Weise des Schlussfolgerns – wenn sie zu einem eindeutigen Ergebnis kommt – zwingend in ihrem Schluss ist, ist selbst unmittelbar evident. Das zwingende Ergebnis ist jedoch, wie bereits erwähnt, nur mittelbar evident. Oft ist es so, dass diese dritte Weise des Schlussfolgerns zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt. Der allgemeine Vorwurf, dass komplexe abstrakte Gedankengänge nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätten, ist widerlegt, wenn die komplexen abstrakten Gedankengänge im Rahmen dieser dritten Weise der dritten Verstandestätigkeit vollzogen werden. Über die drei Weisen des Schlussfolgerns bzw. der dritten Verstandestätigkeit, gibt es noch weitere Weisen, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Darüber hinaus gibt es noch weitere Arten der Evidenz, auf die hier auch nicht eingegangen wird, wie Evidenz bei Gedächtnisinhalten oder beim sinnlichen Selbstbewusstsein.
Substanzielle Formen vs. Akzidentelle Formen
Mit jeder Verstandestätigkeitsart werden die Begriffe gebildet. Die erste Verstandestätigkeitsart erfasst sie einfach und unvollständig. Durch die Aussagenbildung und Schlussfolgerung der weiteren Verstandestätigkeitsarten, werden die einfachen und unvollständigen Begriffe erweitert und komplexer. Doch in welcher Beziehung stehen die vom Verstand gebildeten Begriffe zu dem, was weiter oben im Artikel als „substanzielle Formen“ und „akzidentelle Formen“ bezeichnet wurde? Wir sahen dort bereits, dass die akzidentellen Formen dasjenige sind, was von den Sinnen wahrgenommen wird. Wir haben außerdem gelernt, dass die Begriffe dasjenige sind, was vom Verstand gebildet wird. Außerdem stellten wir fest, dass die Begriffe unterschieden werden können in Allgemein-Begriffe und das, was wir „individuelle Begriffe“ genannt haben. Die Allgemein-Begriffe waren das, was in unserem Bewusstsein die Wesenheiten der Begriffsinhalte darstellen. Die substanziellen Formen wiederum waren die Wesenheiten der Substanzen. Zu den Begriffsinhalten von Allgemein-Begriffen zählen in erster Linie die Substanzen. Erkennen wiederum bestand darin, dass ein Teil der objektiven Wirklichkeit, auf eine neue Daseinsweise zum Inhalt des Bewusstseins wird bzw. zum Bewusstseinsgegenstand wird. Bei den Sinnen sahen wir dies weiter oben bereits. Beim Verstand sieht es wie folgt aus: Wir beginnen mit den Allgemein-Begriffen des Verstandes. Wenn den Allgemein-Begriffen Evidenz zukommt, stellen sie die Wesenheiten der Begriffsinhalte nicht nur dar, sondern dann sind sie sogar die Wesenheit der Begriffsinhalte, bei Substanzen die substanziellen Formen. Die Daseinsweise substanzieller Formen als Allgemein-Begriffe in unserem Bewusstsein im Vergleich zur Daseinsweise substanzieller Formen außerhalb unseres Bewusstseins in den Dingen und Lebewesen unterscheidet sich wie folgt: Außerhalb des Bewusstseins sind die substanziellen Formen verbunden bzw. in Einheit mit Materie und vereinzelt. Innerhalb des Bewusstseins sind die substanziellen Formen losgelöst von Materie und verallgemeinert.
Wie sieht es nun mit den akzidentellen Formen aus? Kann der Verstand sie auch erkennen, oder erkennt er nur die substanziellen Formen? Die Sinne – das sahen wir weiter oben bereits – vermögen nur die akzidentellen Formen zu erkennen. Der Verstand vermag nicht nur Allgemein-Begriffe zu bilden, sondern auch das, was wir als individuelle Begriffe bezeichnet haben. Durch die individuellen Begriffe vermag sich der Verstand auf Einzelnes zu beziehen. Die akzidentellen Formen sind immer etwas Einzelnes. Der Verstand vermag durch die individuellen Begriffe sich auf akzidentelle Formen zu beziehen und sie so zu erkennen. Allerdings ist das Erkennen akzidenteller Formen des Verstandes anders als das der Sinne. Die Sinne empfinden die akzidentelle Form, was der Verstand nicht vermag. Der Verstand versteht die akzidentelle Form, was die Sinne nicht vermögen.
Akzidentelle Formen als sinnliches Bewusstseinsobjekt können dadurch im Bewusstsein sein, weil sie gerade sinnlich wahrgenommen werden. Sie können allerdings auch durch unser Vorstellungsvermögen oder Gedächtnis Teil unseres Bewusstseins sein. Jedenfalls gibt es verschiedene Möglichkeiten für das Phänomen aktueller sinnlicher Bewusstseinsobjekte. Weiter oben sahen wir, dass über die sinnlichen Bewusstseinsobjekte die Begriffe abstrahiert werden. Durch die weiteren Verstandestätigkeitsarten sollte klar geworden sein, dass Begriffe nicht nur durch die sinnlichen Bewusstseinsobjekte gebildet oder vergegenwärtigt werden können. Dank der weiteren Verstandestätigkeitsarten vermag der Verstand eigenständig Begriffe weiterzubilden oder zu vergegenwärtigen. Mit der Eigenständigkeit im Bilden und Vergegenwärtigen von Begriffen einhergehend, ist die Verbundenheit mit sinnlichen Bewusstseinsobjekten durch das Vorstellungsvermögen. Sowie die Substanzen eine Einheit aus Form und Materie sind, gibt es im menschlichen Bewusstsein eine Einheit zwischen Begriff und sinnlichem Objekt. Wenn sich durch den Verstand im Bewusstsein ein Begriff befindet, folgt unmittelbar ein sinnliches Objekt durch das Vorstellungsvermögen und wenn sich im Bewusstsein ein sinnliches Objekt befindet, folgt unmittelbar ein Begriff (mehr dazu siehe „Was ist der Mensch?“).
Erfahrung der Evidenz
Die Evidenz ist also das Kriterium von Wahrheit, von richtigem Erkennen. In der Erfahrung der Evidenz, ist uns die Wahrhaftigkeit der Wirklichkeit und Wahrheit zugänglich. Doch was genau ist die Erfahrung von Evidenz? Vom Wort „Erfahrung“ gibt es verschiedene Begriffsinhalte, die miteinander einige Gemeinsamkeiten haben, sich jedoch in manchen Punkten auch unterscheiden. Der Begriffsinhalt, der uns hier interessiert, ist derjenige, der im Wort „Erfahrung“ einen unmittelbaren Erkenntnisakt sieht. Was mit „unmittelbarer Erkenntnisakt“ gemeint ist, soll anhand der Anwendung, auf die uns nun bekannten Erkenntnisakte gezeigt werden. Im Anschluss daran, gehen wir auf die spezifische Erfahrung von Evidenz ein.
Wir arbeiten uns bei den bekannten Erkenntnisakten von hinten nach vorn durch. Das Schlussfolgern ist ein Erkenntnisakt des Verstandes. In ihm wird uns die Wirklichkeit dadurch zuteil, dass Aussagen zueinander in Beziehung gesetzt werden, die wiederum aus Begriffen bestehen. Die Aussagen und Begriffe vermitteln beim Schlussfolgern die Wirklichkeit. Aufgrund dessen kann zwar gesagt werden, dass wir die Schlussfolgerung selbst vollziehen, jedoch nicht, dass wir im Schlussfolgern die Wirklichkeit unmittelbar erkennen, dass wir die Wirklichkeit erfahren. Die Aussagenbildung ist auch ein Erkenntnisakt des Verstandes. Bei ihr wird uns die Wirklichkeit dadurch zuteil, dass Begriffe zueinander in Beziehung gesetzt werden. Hier ist der Grad an Vermittlung geringer als beim Schlussfolgern, doch unmittelbar ist dieser Erkenntnisakt auch nicht. Ohne die Vermittlung der Wirklichkeit durch die Begriffe, würden nämlich keine Aussagen entstehen. Dann haben wir die Verstandestätigkeit der einfachen Begriffsbildung: das Abstrahieren. Bei ihr wird uns die Wirklichkeit dadurch zuteil, dass von den sinnlichen Bewusstseinsobjekten abstrahiert wird. Hier ist die Vermittlung von allen Verstandestätigkeitsakten am geringsten. Doch auch hier vollzieht sich Wirklichkeitsvermittlung, und zwar durch die sinnlichen Bewusstseinsobjekte. Also erkennen wir im Abstrahieren die Wirklichkeit auch nicht unmittelbar. Dann haben wir noch die Erkenntnisakte der Sinne. Hier vollziehen sich zwar physiologische Prozesse als Voraussetzung für sinnliche Erkenntnis und die erkannten Objekte werden bei manchen Sinnen durch ein Medium vermittelt, wie das Medium Licht die Sehobjekte vermittelt, doch die sinnlichen Objekte werden im Bewusstsein durch nichts vermittelt. Die Sinneserkenntnis wird durch keine andere Erkenntnis vermittelt. Die sinnliche Erkenntnis erfasst insofern die Wirklichkeit unmittelbar. Deshalb kann bei der Sinneserkenntnis gesagt werden, dass in ihr die Wirklichkeit erfahren wird.
Kommen wir nun zu unserer Erfahrung der Evidenz. Erfahrene Evidenz, das lernten wir weiter oben bereits, ist nicht etwas, zu den jeweiligen Erkenntnisakten Hinzukommendes. Die Evidenzerfahrung ist Teil der jeweiligen Erkenntnisakte. Genauer gesagt ist erfahrene Evidenz Teil wirklichkeitsgemäßer Erkenntnisakte, Teil der Wahrheit. Die erkannte Evidenz – sei sie unmittelbar oder mittelbar – ist der Teil wirklichkeitsgemäßer Erkenntnisakte, der bei jedem Erkenntnisakt – sei der Erkenntnisakt im Ganzen selbst unmittelbar oder vermittelt – erfahren wird. Bei der Erfahrung der Wirklichkeit durch die Sinne ist also ein Teil der Erfahrung der Wirklichkeit die Erfahrung unmittelbarer Evidenz. Genauso ist bei der vermittelten Erkenntnis der Wirklichkeit im Schlussfolgern, ein Teil dieser vermittelten Erkenntnis die Erfahrung mittelbarer Evidenz. Im Vollzug eines Erkenntnisakts ist der Erkenntnisakt subjektiv jedoch nicht geteilt in die Erfahrung von Evidenz und dem Rest des Erkenntnisakts, sondern er ist einfach.
Erfahrung von Evidenz ist auch nichts, was nur Einzelnen vorbehalten ist, oder nur von Einzelnen getätigt werden kann. Wenn jemand Evidenz erfährt, also Wahres als wahr erkennt, muss grundsätzlich jeder, dessen Sinne und Verstand normal funktionieren, dieselbe Wahrheit ebenfalls als wahr erkennen können und also dieselbe Evidenz erfahren können. Der einzige Unterschied besteht im subjektiven Teil der Erfahrung von Evidenz und im Erkennen von Wirklichkeit. Doch die jeweiligen erkennenden Subjekte nehmen dann dieselbe Wirklichkeit und Evidenz auf. Vom Standpunkt der Wirklichkeit aus gesehen ist die Wirklichkeit die Voraussetzung für Evidenz. Vom erkennenden Subjekt aus gesehen ist die Evidenz Voraussetzung für die Erkenntnis der Wirklichkeit. Wenn Evidenzen erfahren und trotzdem geleugnet werden, ist das Problem nicht aufseiten des Verstandes zu suchen, sondern aufseiten des Willens. Wenn Evidenzen geleugnet und nicht erfahren werden, ist das Problem aufseiten des Verstandes zu suchen. Ob bei jemandem, der Evidenz leugnet, das Problem im Verstand oder Willen besteht, kann durch Kommunikation herausgefunden werden.
Gewissheit
Die Gewissheit ist also das Kriterium für Wissen. Die von uns erfahrene Evidenz der Wirklichkeit, hat in uns die Gewissheit über das Wissen der Wirklichkeit zur Folge. Gewissheit und Wissen stehen in derselben Beziehung zueinander, wie Evidenz und Wahrheit. Die Gewissheit ist Teil des Wissens. Durch die Gewissheit wissen wir von der Echtheit des Gewussten. Die erkannte Wirklichkeit führt zum Wissen. Die Evidenz macht uns die Wahrhaftigkeit der erkannten Wirklichkeit klar und die Gewissheit macht uns die Echtheit des Wissens klar. Auf andere Art formuliert: Wegen der Evidenz wissen wir von der Echtheit der Übereinstimmung zwischen Erkennen und Wirklichkeit und wegen der Gewissheit wissen wir von der Wahrhaftigkeit dessen, was wir wissen. Die erkannte Wirklichkeit führt zu Wissen. Das Kriterium der Übereinstimmung zwischen Erkennen und Wirklichkeit ist Evidenz und das Kriterium für wahres Wissen ist Gewissheit. Die Evidenz führt zur Gewissheit. Die erfahrene Evidenz führt immer zur Gewissheit und Gewissheit kommt nur durch erfahrene Evidenz zustande. Daran erkennen wir auch indirekt, wenn etwas irrtümlich für gewiss gehalten wird. Wenn angenommen wird, etwas, das nicht durch Evidenz kommt, sei gewiss, dann ist es nicht gewiss. Direkt erkennen wir Gewissheit in seiner Erfahrung. So wie wir in der Evidenz die Übereinstimmung zwischen Erkennen und Wirklichkeit erfahren, erfahren wir in der Gewissheit die Übereinstimmung zwischen Wissen und Erkennen. Evidenz und Gewissheit sind miteinander verbunden. Das subjektive Bindeglied, um vom Wissen des Erkannten zur erkannten Wirklichkeit vorzudringen, ist die Erfahrung der Evidenz. Das subjektive Bindeglied, um von der Erkannten Wirklichkeit zum Wissen des Erkannten vorzudringen, ist die Gewissheit. Die Erfahrung der Evidenz ist die Erfahrung der Wahrhaftigkeit der Wahrheit. Die Erfahrung der Gewissheit ist die Erfahrung der Wahrhaftigkeit des Wissens.
Radikaler Skeptizismus & Radikaler Konstruktivismus
In diesem Abschnitt wollen wir vertieft auf eine Vorstellung eingehen, die weiter oben bereits angeschnitten wurde. Sie heißt „Skeptizismus“ und besteht darin, Erkennen und Wissen infrage zu stellen. Der Skeptizismus zweifelt an der Möglichkeit von Wahrheit. Da es eines der großen Anliegen dieses Artikels ist, zu zeigen, dass diese Vorstellung falsch ist, wird hier nochmals tiefer auf sie eingegangen. Zunächst einmal wird auf die Widersprüchlichkeit dieser Annahme hingewiesen. Jemand, der annimmt, es gäbe keine Wahrheit, hält es für wahr, dass es keine Wahrheit gibt. Dies ist ein Widerspruch. Jemand, der annimmt, Wissen zu haben sei nicht möglich, glaubt zu wissen, dass es kein Wissen gäbe. Dies ist ein Widerspruch. Bezogen auf Erkennen sieht es genauso aus. Würde Erkennen nicht möglich sein, dürfte nicht erkannt werden können, dass Erkennen nicht möglich ist. Würde man hypothetisch annehmen, der Skeptizismus sei wahr, wäre die Folge, dass seine Wahrheit nicht erkannt oder gewusst sein dürfte, da dies den Skeptizismus sonst widerlegt. Selbst die hypothetische Annahme, der Skeptizismus sei wahr, ist widersprüchlich, da der Skeptizismus Wahrheit bezweifelt. Alles anzuzweifeln oder alles für Täuschung zu halten, ist aus einem weiteren Grund widersprüchlich. Allgemein zu zweifeln heißt, am Sein zu zweifeln, und alles für Täuschung zu halten heißt, das Sein für Täuschung zu halten. Doch wenn alles Sein angezweifelt wird, muss ja zumindest der Zweifel sein, und wenn alles Sein für Täuschung gehalten wird, muss ja mindestens die Täuschung sein. Dann muss beim Zweifeln immer auch ein Zweifler sein und bei Täuschung dasjenige sein, wodurch die Täuschung entsteht. Konzentrieren wir uns mal nur auf den Zweifel: Am Sein zu zweifeln hat einige Voraussetzungen und Implikationen, anhand derer leicht zu erkennen ist, dass es vielfältiges Seiendes geben muss. Wir sahen, dass es beim Zweifel jemanden geben muss, der zweifelt. Somit kommen dem Zweifel selbst und dem Zweifler notwendig Sein zu. Wenn dem Zweifel und dem Zweifler Sein zukommt, kann es nicht sein, dass dem Zweifel und dem Zweifler zugleich kein Sein zukommt. Somit kommt auch dem Grundsatz Sein zu, dass etwas nicht in derselben Hinsicht zugleich sein und nicht-sein kann. Des Weiteren muss das zweifelnde Subjekt die Befähigung dazu haben, zweifeln zu können. Der Zweifler muss eine Absicht dabei haben, überhaupt zu zweifeln und den Zweifel zu äußern. Selbst angeblich grundlos etwas machen zu wollen, ist eine Absicht. Somit kommen auch Absichten, Äußerungen, Tätigkeiten und dem Willen Sein zu. Darüber hinaus muss es eine Ursache dafür geben, warum der Zweifler vom allgemeinen Zweifel überzeugt ist. Somit kommt Ursachen und Überzeugungen Sein zu. Dies sind nur vereinzelte Beispiele dafür, was aus dem Phänomen des Zweifelns abgeleitet werden kann. Über diese Beispiele hinaus, könnten noch zahlreiche weitere angeführt werden. Darüber hinaus könnten aus den einzelnen Ableitungen weitere Ableitungen vollzogen werden. Der Skeptizismus ist also unhaltbar und inhaltlich falsch.
Eng mit dem Skeptizismus verwandt, ist der sogenannte Konstruktivismus. Er geht davon aus, dass es keine Objektivität gebe, sondern nur subjektive Konstrukte. Jedes Bewusstsein schaffe sich seine eigene Wirklichkeit, sein eigenes Konstrukt. Selbst die Denk- und Seins-Grundsätze seien subjektive Konstrukte und hätten keine objektive Gültigkeit. Dass etwas nicht zugleich in derselben Hinsicht sein und nicht-sein kann, sei nicht objektiv. Darauf ist zu erwidern, dass dieser Vorstellung zufolge der Konstruktivismus selbst nur ein subjektives Konstrukt ist, was zu seiner inhaltlichen Aufhebung führt. Darüber hinaus ist eine formulierte Begründung des Konstruktivismus überflüssig, da die formulierte Begründung dem Konstruktivismus zufolge zugleich auch ihr inhaltliches Gegenteil bedeute, wenn objektive Grundsätze keine Gültigkeit haben. Der Konstruktivismus ist also selbstwidersprüchlich. Darüber hinaus kann der Konstruktivismus, wenn er wahr wäre, sich auch nicht selbst verteidigen, da er sich dabei ebenfalls allgemeingültiger Grundsätze bedienen müsste. Ein Konstruktivist würde darauf antworten, dass dies auch nur ein Konstrukt sei. Mal abgesehen davon, dass er bei dieser Erwiderung ganz nicht-konstruktivistisch davon ausgeht, dass er selbst existiert, sein Gegenüber existiert, seine Erwiderung existiert und einen eindeutigen Inhalt hat, ist es so, dass die subjektiven Konstrukte selbst objektiv als subjektive Konstrukte existieren müssen. Darauf würde der Konstruktivist erwidern, dass diese Aussage, sowie die logische Folgerung, selbst auch nur Konstrukte seien. Doch auch diese Erwiderung setzt dieselbe Objektivität voraus – die Gültigkeit des ersten Denk- und Seins-Grundsatzes, die Existenz des Konstruktivisten usw. –, um gedacht und geäußert werden zu können. In dieser gestellten Argumentation mit einem Konstruktivisten haben wir nun einen interessanten Punkt erreicht: Auf alles, was dem Konstruktivisten inhaltlich geboten wird, wird immer wieder das gleiche erwidert, nämlich dass es nur ein Konstrukt sei. Jetzt könnte natürlich auf jede dieser Erwiderungen geantwortet werden, dass die Behauptung, alles sei ein Konstrukt, die Objektivität des ersten Grundsatzes, der eigenen Existenz und der Existenz des Konstrukts voraussetzt. Dies könnte dann unbegrenzt lange so weitergehen, hätte jedoch nichts mehr mit einer vernünftigen Argumentation zutun. Das Problem länge sehr wahrscheinlich nicht in einem Mangel an Verständnis, sondern in einem Mangel an willentlicher Bereitschaft, seitens des Konstruktivisten. Selbst wenn er von seiner Meinung nicht abließe, bestätigt er allein durch sein alltägliches Handeln, die Falschheit des Konstruktivismus. Dem Konstruktivismus zufolge ist die uns erkennbare Außenwelt ein Konstrukt. Trotz dieser Annahme handelt der Konstruktivist so, als sei die Außenwelt real und kein Konstrukt. Er geht z.B. möglichen Gefahren und Schmerzursachen aus dem Weg. Er geht nicht bei viel Verkehr bei Rot über die Ampel. Er fasst keine glühende Herdplatte an usw. Also ist auch der Konstruktivismus unhaltbar und falsch.
Einige Anhänger von Theorien wie die des Skeptizismus oder Konstruktivismus, mögen als Ursache die Unvollkommenheit unseres Erkennens gehabt haben. Die Unvollkommenheit menschlichen Erkennens ist in diesem Artikel auch nicht bestritten worden. Dem Artikel zufolge kann jedoch geschlossen werden, dass das unvollkommene und wenige, was wir zu erkennen vermögen, richtiges Erkennen ist und dass es einen Unterschied zwischen unvollkommenem Erkennen und keinem Erkennen gibt. Darüber hinaus kann man sich erkenntnistheoretischen Fragen nicht voraussetzungslos zuwenden. Wenn man wissen möchte, wann Erkennen richtig ist, muss man wissen, wie Erkennen funktioniert. Wenn man wissen möchte, wie Erkennen funktioniert, muss man die Teile des menschlichen Wesens kennen, die mit Erkennen in Zusammenhang stehen. Das wiederum setzt Basics in den Bereichen Metaphysik, Logik und Naturphilosophie voraus. Die Tatsache, dass sich also nicht voraussetzungslos der Frage gewidmet werden kann, wann menschliches Erkennen richtig ist, heißt nicht, dass der Mensch nicht wissen kann, wann sein Erkennen richtig ist. Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass manche Personen realitätsfremde erkenntnistheoretische Standpunkte einnehmen.
Frage – Antwort
Zum Ende dieses Artikels wollen wir seine Inhalte teilweise verfestigen, aus neuen Perspektiven darstellen und ergänzen. Dies soll durch gezielte Fragen und entsprechende Antworten vollzogen werden.
Frage 1: Woher wissen wir, dass es stimmt, dass die Evidenz das Kriterium für Wahrheit (= Übereinstimmen zwischen Erkennen und Wirklichkeit) ist?
Antwort 1: In diesem Artikel wurde anhand mehrerer Beispiele und logischer Folgerungen gezeigt, dass es Wahrheit gibt. Aus dem Umstand, dass es Wahrheit gibt, folgt, dass es eine Ursache bzw. einen Grund dafür geben muss. Der Grund für Wahrheit – vonseiten der Wirklichkeit – ist nun das, was wir Evidenz genannt haben. Die Evidenz ist ihrem Wesen nach also das, was, seitens der Wirklichkeit, Wahrheit ermöglicht. Die Evidenz ist die Erkennbarkeit der Wirklichkeit.
Frage 2: Woher wissen wir, dass die Inhalte dieses Artikels stimmen?
Antwort 2: Die Inhalte dieses Artikels gingen von basalen Beispielen aus, die sowohl hier als wahr vorausgesetzt wurden, als auch allgemein als wahr vorausgesetzt werden. Ein solches Beispiel ist, dass bei zustande kommenden verbalen Kommunikationen, die verbalen Kommunikanten, ein Mindestmaß an Verständnis gegenüber den gesprochenen Worten des Gegenübers haben müssen. Bei diesem, wie auch bei zahlreichen anderen Beispielen, gibt es notwendige Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit solche Beispiele überhaupt zustande kommen können. Zu diesen notwendigen Voraussetzungen zählen Erkennen, Wirklichkeit, Wahrheit und Wissen. Solche Beispiele sollen zeigen, dass wir durch alltägliche Begebenheiten bereits eine Art unmittelbares Erfahrungswissen über erkenntnistheoretische und metaphysische Zusammenhänge besitzen. Ein solches Erfahrungswissen fordert, dass ausformulierte Theorien, die sich auf die gleichen Inhalte beziehen, worüber wir diese Art von Erfahrungswissen haben, im Einklang mit diesem Erfahrungswissen stehen. Dies ist auch das Selbstverständnis dieses Artikels: Er ist die Ausformulierung des Erfahrungswissens, seiner Voraussetzungen und Implikationen.
Frage 3: Warum kann nicht das, was wir für die Wirklichkeit halten, alles nur Illusion sein?
Antwort 3: Würde alles Illusion sein, müsste das Sein der Illusion selbst auch nur Illusion sein, was zur Folge hätte, dass es nichts gäbe. Da es aber etwas gibt – z.B. man selbst und das, was für Illusion gehalten wird – kann nicht alles Illusion sein.
Frage 4: Können Bewusstseinsinhalte einen Bezug zur Wirklichkeit haben?
Antwort 4: Die Frage 4 überhaupt stellen zu können, setzt ihre Bejahung voraus. Die Wirklichkeit, wie sie hier gemeint ist, besteht in der Summe alles Seienden. Das Bewusstsein mit seinen Inhalten ist selbst Teil davon. Wenn also eine Frage gestellt wird – die selbst ein Bewusstseinsinhalt ist –, in der sich aufs eigene Bewusstsein oder die eigenen Bewusstseinsinhalte bezogen wird, wird sich auf die Wirklichkeit bezogen. Würde das Bewusstsein keinen Bezug zur Wirklichkeit haben, könnte also nicht einmal die Frage gestellt werden, ob es einen Bezug zwischen beidem gäbe.
Frage 5: Können Bewusstseinsinhalte einen Bezug zur Wirklichkeit außerhalb des Bewusstseins haben?
Antwort 5: Die eigene Existenz ist kein Bewusstseinsinhalt. Über das Phänomen eigener Bewusstseinsinhalte kann auf die eigene Existenz geschlossen werden, da die eigene Existenz die Voraussetzung für eigene Bewusstseinsinhalte ist. Würde verneint werden, dass die eigene Existenz Voraussetzung für eigene Bewusstseinsinhalte ist, wäre die Folge, dass die eigenen Bewusstseinsinhalte die eigene Existenz erschaffen. Dies wäre allerdings ein Widerspruch, da die Bewusstseinsinhalte selbst existieren müssen. Die Bewusstseinsinhalte müssten so vor ihrer eigenen Existenz existieren, um sich selbst in die Existenz zu holen. Daraus folgt, dass mindestens die eigene Existenz als nicht-eigener-Bewusstseinsinhalt Teil der Wirklichkeit ist. Somit wird Frage 5 auch bejaht.
Frage 6: Ist Wahrheit veränderlich?
Antwort 6: Würde Wahrheit veränderlich sein, müsste sich verändern, dass die Wahrheit veränderlich ist. Wenn Wahrheit jedoch einmal unveränderlich ist, kann sich nicht mehr verändern, dass sie unveränderlich ist. Im Artikel haben wir bereits gesehen, dass, wenn sich das Wesen von etwas verändert, das Veränderte nicht mehr dasselbe ist, wie zuvor. Wenn es z.B. so ist, dass der Mensch dasjenige Wesen ist, dem die sechs Vermögensgattungen zukommen, nämlich die sinnlichen Erkenntnisvermögen, der Verstand, die sinnlichen Strebevermögen, der Wille, die Bewegungsvermögen und die vegetativen Vermögen, wäre ein Wesen nicht mehr ein Mensch, dem eine Vermögensgattung zugefügt oder weggenommen wird. Auf der anderen Seite wäre jedes Wesen, dem diese sechs Vermögensgattungen zukommen, ein Mensch – und zwar unabhängig davon, ob jedes dieser Vermögen jemals zur Tätigkeit gelangt. Ähnlich ist es auch bei Wahrheiten. Würde sich das Wesen einer Wahrheit verändern, wäre es eine andere Wahrheit. Wenn sich jedoch eine Wahrheit verändern würde, wäre es niemals eine Wahrheit gewesen. Sogar bei der Art von Wahrheiten, die Bedingungen für ihr Wahr-Sein einschließt, ist es genauso. Etwas, das unter bestimmten Bedingungen wahr ist, wird unter denselben Bedingungen immer wahr sein. Wenn es z.B. wahr ist, dass ich – Person XYZ – gegenwärtig – zum Zeitpunkt XYZ – eine Banane esse, wird es immer wahr bleiben, dass Person XYZ zum Zeitpunkt XYZ eine Banane gegessen hat. Natürlich wäre die Behauptung, ich esse gerade eine Banane, dann falsch, sobald ich keine Banane mehr esse. Doch die Wahrheit der Behauptung, dass ich gerade eine Banane esse, schließt die Bedingungen bzw. Umstände ein (hier Person und Zeit), was in der Behauptung weggelassen werden kann. Gleiches gilt für die Wahrheit, dass die Behauptung, ich esse gerade eine Banane, wahr ist. Wenn es keine Wahrheit mehr ist, dass die Behauptung wahr ist, dass ich gerade eine Banane esse, wird es trotzdem immer eine Wahrheit sein, dass es unter entsprechenden Bedingungen eine Wahrheit ist, dass die Behauptung, ich esse gerade eine Banane, wahr ist. Dies gilt auch dann, wenn die Bedingungen kein weiteres Mal erfüllt würden. Oft ist es auch so, dass wir nicht alle Bedingungen oder Umstände kennen, sodass es uns so vorkommen kann, als würden sich Wahrheiten verändern, doch in Wirklichkeit sind es dann nie Wahrheiten gewesen. Sie erschienen uns höchstens als Wahrheiten, was selbst auch eine Wahrheit ist. Wenn etwas also eine Wahrheit ist, bleibt es immer eine Wahrheit. Wahrheit ist immer unveränderlich.
Frage 7: Warum ist die Logik objektiv oder allgemeingültig?
Antwort 7: Direkt wird die Objektivität und Allgemeingültigkeit der Logik durch unmittelbare Evidenz begründet. So bald verstanden wurde, was Logik ist, ist es evident, dass sie objektiv und allgemeingültig ist. Indirekt ist eine Begründung der Objektivität und Allgemeingültigkeit der Logik, wenn sie zeigt, dass es widersprüchlich ist, anzunehmen, dass sie nicht objektiv und allgemeingültig wäre. Eine indirekte Begründung der Objektivität und Allgemeingültigkeit der Logik muss selbst objektiv und allgemeingültig logisch sein, da eine nicht objektiv und allgemeingültig logische Begründung nichts begründet. Gleiches gilt für den Satz zuvor, den gegenwärtigen Satz und jeden weiteren. Genauso muss jemand, der die Objektivität und Allgemeingültigkeit der Logik leugnet, sich der objektiven und allgemeingültigen Logik bedienen. Es ist also nicht möglich, nicht objektiv und nicht allgemeingültig logisch eine objektiv und allgemeingültig logische Begründung für die Unmöglichkeit der Objektivität und Allgemeingültigkeit der Logik zu geben. Es wäre also sinnvoll, solange davon auszugehen, dass die Logik objektiv und allgemeingültig ist, wie es zum einen nicht möglich ist, durch nicht objektiv und nicht allgemeingültig Logisches etwas zu begründen und zum anderen nicht möglich ist, durch objektiv und allgemeingültig Logisches die nicht Objektivität und nicht Allgemeingültigkeit der Logik zu begründen. Objektivität und Allgemeingültigkeit sind Wesensbestandteile der Logik.
Frage 8: Das von uns gegenwärtig Erkannte, ist stets nur in unserem Bewusstsein. Jedes Individuum nimmt die Wirklichkeit auch lediglich mit dem eigenen Bewusstsein wahr. Eine Überprüfung der Zuverlässigkeit eigenen Erkennens kann auch nur bewusstseinsintern geschehen. Um jedoch wahrhaftig zu überprüfen, ob die Bewusstseinsinhalte mit der Wirklichkeit übereinstimmen, müssten wir doch aus uns selbst – und unserem Bewusstsein – herausgehen und einen objektiven Standpunkt einnehmen, von dem aus wir auf die Bewusstseinsinhalte und die Wirklichkeit schauen. Das ist jedoch nicht möglich. Ist dieser Einwand auflösbar?
Antwort 8: Der Erkenntnistheorie dieses Artikels zufolge, besteht Erkennen in der Einswerdung zwischen Wirklichkeit und Bewusstseinsinhalt. Das Erkannte fängt im Erkennenden auf neue Weise an zu existieren. Dies ist in diesem Artikel ausführlich behandelt worden. Darüber hinaus beinhaltet die Erkenntnistheorie dieses Artikels, dass Bewusstseinsinhalte nicht möglich sind, wenn noch nie erkannt wurde. Ein Mensch, der ohne Erkenntniskraft geboren würde, könnte niemals Bewusstseinsinhalte haben. Er könnte nicht einmal Gefühle wahrnehmen, da auch hierfür ein Erkennen notwendig ist (Gefühle zu haben, setzt selbst Erkennen voraus, doch das ist ein anderes Thema). Somit muss dieser Erkenntnistheorie zufolge jeder mit Bewusstseinsinhalten bereits wahrhaftig erkannt haben. Die Wahrhaftigkeit des Erkennens muss dieser Erkenntnistheorie nicht dadurch festgestellt werden, dass man einen objektiven Standpunkt – den sogenannten Gottesstandpunkt oder „God‘s eye view“ – einnimmt, da Erkennen ja immer ein Einssein zwischen Bewusstseinsinhalt und Wirklichkeit ist. Dieser Erkenntnistheorie zufolge reicht es aus, sich auf das Kriterium dieses Einsseins bzw. der Übereinstimmung zu beschränken, welches auch gleichzeitig die Bedingung ist: die Evidenz. Die Evidenz ist in diesem Artikel ausführlich behandelt worden.
Frage 9: Was ist mit Fällen, in denen man dazu neigt, eine Aussage für unmittelbar evident zu halten, ohne sich jedoch ganz sicher darüber zu sein, ob sie es wirklich ist?
Antwort 9: In solchen Fällen kann man die entsprechende Aussage mit einer vergleichen, die ganz sicher unmittelbar evident ist, wie dem ersten Grundsatz, dass nämlich etwas in derselben Hinsicht nicht zugleich sein und nicht-sein kann. Ist die Folge der entsprechenden Aussage in uns, wie beim ersten Grundsatz, Gewissheit? Oder unterscheidet sich der innere Zustand als Folge der Erkenntnis der entsprechenden Aussage, vom inneren Zustand als Folge der Erkenntnis des ersten Grundsatzes? Wenn er verschieden ist, scheint es entweder keine unmittelbar evidente Aussage zu sein, oder man könnte die Aussage auch bislang nicht richtig verstanden haben. Das könnte man im zweiten Schritt überprüfen, ob wirklich verstanden ist, was die Aussage bedeutet. Wenn man sich sicher ist, die Aussage verstanden zu haben, könnte man darüber hinaus noch schauen, was wäre, wenn angenommen wird, dass die entsprechende Aussage inhaltlich nicht stimmt. Wäre es offenbar widersprüchlich und unsinnig? Ein Beispiel hierfür ist, wenn angenommen würde, ein Teil sei größer als das Ganze, von dem es ein Teil ist. In diesem Fall wäre entsprechende Aussage tatsächlich unmittelbar evident.
Frage 10: Wie ist es überhaupt möglich, bei der Erfahrung unmittelbarer Evidenz von Aussagen, Zweifel über die unmittelbare Evidenz haben zu können?
Antwort 10: Die Inhalte des Artikels haben gezeigt, dass es nicht möglich ist, in der Erfahrung unmittelbarer Evidenz von Aussagen (dies schließt das Verständnis der Aussage ein), über die Evidenz Zweifel zu haben. Der Frage und Antwort 9 nach scheint dies jedoch anders zu sein, aufgrund dessen die Frage 10 gestellt wurde. Die Antwort ist, dass es nicht möglich ist, in der Erfahrung der Evidenz – egal welcher Art von Evidenz – Zweifel über die Evidenz zu haben. Es gibt jedoch psychologische Phänomene, in denen das Verständnis von Inhalten abhandenkommt, in denen Evidenz verloren geht. Es gibt Fälle, in denen Wahrheiten, die einem klar sind, zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr klar sind. Ein solches psychologisches Phänomen ist die semantische Sättigung, bei dem die mehrfache Wiederholung von Begriffen und Aussagen zu einem Bedeutungsverlust führen kann. Ein weiteres Phänomen ist, wenn durch zu intensives Überdenken von Inhalten, die Inhalte ihre Kohärenz verlieren. Durch solche Phänomene ist es möglich, dass bereits erkannte unmittelbar evidente Aussagen nicht weiterhin als solche erkannt werden.
Auf der anderen Seite gibt es übrigens auch gegenteilige Phänomene, was nur kurz erwähnt wird und hier bei einer Behauptung verbleiben soll. Zum einen diejenigen Phänomene, in denen die unmittelbare Evidenz auf Aussagen ausgeweitet wird, bis wohin unsere Erkenntniskraft im Normalfall keinen Zugang hat, wie es vereinzelt in Situationen geschieht – die von manchen Personen als Bewusstseinserweiterungen bezeichnet werden –, in denen einem z.B. die Tiefe, Schönheit und Einfachheit der Wirklichkeit des entsprechenden Aussageninhaltes aufgeht. Zum anderen gibt es diejenigen Phänomene, in denen mit dem Verstand unmittelbar Inhalte erkannt werden – „unmittelbar“ bezieht sich hier auf die Darlegungen über die Unmittelbarkeit des Erkennens aus dem Abschnitt „Erfahrung der Evidenz“ –, was in der Regel als geistiges Schauen bezeichnet und zur Wissenschaft der Mystik gerechnet wird.
Zurück zur Frage 10: So lange unmittelbar evidente Aussagen als solche erkannt werden, ist es nicht möglich, Zweifel über die Evidenz zu haben. Es ist jedoch möglich, dass die Erkenntnis unmittelbar evidenter Aussagen abhandenkommt, was natürlich auch zu einem Verlust der Erfahrung unmittelbarer Evidenz der Aussage führt.
Abschließend sei gesagt, dass nur eine Erkenntnistheorie, die eine objektive Wirklichkeit annimmt und die Phänomene „Wahrheit“, „Erkennen“ und „Wissen“ einschließt, realistisch ist. Sicherlich ist es oft nicht leicht, mit dem Verstand tiefer in die Wirklichkeit vorzudringen und sicherlich bleiben manche Antworten auf Fragen einem länger oder sogar dauerhaft verschlossen. Trotzdem ist Wissenschaft nicht anders möglich, als in einer Wirklichkeit, die angemessen durch eine realistische Erkenntnistheorie beschrieben wird, sowie es durch diesen Artikel vollzogen wurde. Der Erkenntnisweg ist ein fortlaufender Prozess der Annäherung an die vollumfängliche Wirklichkeit, der niemals an ein Ende gelangen wird.
Wäre Wahres zu wissen nicht klar,
dann wär unser Wissen nicht wahr.
Doch da unser Wissen ist wahr,
ist Wahres zu wissen uns klar.